Gibraltars Bevölkerung ist nicht «lückenlos» geimpft - Impfung zeigt dennoch Wirkung
19.11.2021, 13:17 (CET), letztes Update: 19.11.2021, 14:23 (CET)
Wohl nie zuvor standen zu einer Krankheit so schnell so viele Daten zur Verfügung wie zu Covid-19. Da liegt es nahe, dass die Zahlen Deutschlands mit denen anderer Länder verglichen werden. In einem Facebook-Beitrag (archiviert) wird der Vergleich mit Gibraltar bemüht. Dort sei die «Infektionsdynamik identisch» - und das, obwohl «lückenlos» geimpft worden sei, heißt es. Der Autor sieht darin einen «Weltbild-Crash für jeden gläubien Impfzwang-Fürsprecher» (Schreibfehler im Original). Denn seiner Ansicht nach ist das ein Beweis dafür, dass die Impfung nicht zu wirken scheint.
Bewertung
Die Zahlen belegen nicht, dass die Impfung wirkungslos ist. Ganz im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit, in Gibraltar an einer Corona-Infektion zu versterben ist deutlich geringer als in Deutschland. Die Annahme, dass in Gibraltar «lückenlos» geimpft wurde lässt außer Acht, dass neben den wenigen Einwohnern des britischen Überseegebiets dort unter anderem auch etliche Pendler anderer Staatsangehörigkeit geimpft wurden, die die Impfquote sogar weit über die 100-Prozent-Marke hinaus verzerren.
Fakten
In Gibraltar wurden laut World Health Organization (WHO) inzwischen über 39 700 Menschen vollständig geimpft. Das sind mehr Menschen als nach Angaben des gibraltarischen Statistikamts (Statistics Office) überhaupt dort leben. Gemessen an der Gesamtbevölkerung von rund 34 000 Menschen ergibt sich eine rechnerische Impfquote von knapp 117 Prozent, die auf den ersten Blick unmöglich erscheint.
Die Erklärung: Unter den Geimpften in der Statistik tauchen nicht nur diejenigen auf, die auch in Gibraltar wohnen und dort ihre Staatsbürgerschaft besitzen. Pendler etwa, die im benachbarten Spanien gemeldet sind und sich in Gibraltar impfen lassen, werden von der Impfstatistik ebenfalls erfasst. Im Vergleich zu anderen Ländern wird in Gibraltar extrem viel gependelt: Die Regierung berichtet auf ihrer Webseite, dass mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung täglich die Grenze überqueren.
Ein Sonderfall wird Gibraltar bei der Berechnung vor allem durch seine geringe Größe. Hier fallen Tausende Pendler stärker ins Gewicht als in Deutschland. Auch hierzulande sind Grenzgänger laut Coronavirus-Impfverordnung impfberechtigt. Nutzen sie das Angebot, tauchen sie in Deutschland in der Impfstatistik auf, ohne hier gemeldet zu sein. Die Impfquote wird in Deutschland dadurch jedoch erheblich weniger stark beeinflusst, da die Bevölkerungszahl mit rund 83,1 Millionen Menschen um ein Vielfaches höher liegt als in Gibraltar.
Die tatsächliche Impfquote innerhalb der gibraltarischen Bevölkerung liegt - anders als es die Statistik vermuten lässt - unter 100 Prozent. Schon alleine deshalb, weil Kinder unter zwölf Jahren derzeit nicht impfberechtigt sind. Erst im September kündigte die Regierung an, dass ein Impfprogramm für Zwölf- bis 15-Jährige startet. Jüngere sind weiterhin außen vor.
In dem Facebook-Beitrag wird zudem behauptet, die «Infektionsdynamik» sei in Gibraltar und Deutschland «identisch». Das zeige, dass die Impfstoffe nicht wirkten. Tatsächlich steigen in beiden Ländern die Infektionszahlen rapide an: Die 7-Tage-Inzidenz lag in Deutschland am 18. November bei 336,9, wie das Robert Koch-Institut (RKI) meldete. In Gibraltar lag sie am 18.11. gar bei 1379,7 pro 100 000 Einwohner, wie aus den Daten der Johns Hopkins Universität hervorgeht, die auf der Seite coronalevel.com visualisiert wurden. Die Aussage, das Infektionsgeschehen sei identisch, ist also nicht haltbar.
Trotz der deutlich höheren Inzidenz ist es in Gibraltar nach wie vor unwahrscheinlicher an Covid-19 zu versterben als in Deutschland. Um die Sterbewahrscheinlichkeit nach einer Infektion zu berechnen, müssen Todesfälle und gemeldete Infektionen in Relation gesetzt werden. Laut jüngster Zahlen liegt die Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland nach einer Infektion mit Covid-19 demnach bei 1,897%, in Gibraltar bei 1,458%.
Welche Auswirkungen der vermeintlich kleine Unterschied hat, verdeutlicht auch die nachfolgende hypothetische Annahme und die daran anknüpfende Berechnung: Wäre die Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland die gleiche wie in Gibraltar, wären bei gleichbleibenden Infektionszahlen hierzulande etwa 23 200 Menschen weniger gestorben, als es tatsächlich der Fall war.
Um die Berechnung der relativen Verhältnisse transparent zu machen, sei an dieser Stelle der Rechenweg erläutert: In Deutschland gibt es rund 5,195 Millionen Corona-Fälle, die dem RKI gemeldet wurden. 98 538 Menschen sind laut gleicher Quelle verstorben. Daraus ergibt sich: 98 538 Todesfälle / 5 195 321 Infektionen ->;;;;;;;;;;;;;;;;;;;; 1,897% Sterbewahrscheinlichkeit nach Infektion. Laut Public Health Department Gibraltar gibt es dort 6721 erfasste Corona-Fälle und 98 Todesfälle. Daraus ergibt sich: 98 Todesfälle / 6721 Infektionen ->;;;;;;;;;;;;;;;;;;;; 1,458% Sterbewahrscheinlichkeit nach Infektion.
Auch wenn die Impfung nicht zu 100 Prozent vor einer Ansteckung schützt, ist sie also wirksam. Das zeigt auch ein anderer dpa-Faktencheck.
(Stand: 18.11.2021)
Hinweis: Wir haben nachträglich ein Komma bei der Angabe «rund 5,195 Millionen Corona-Fälle» im vorletzten Absatz ergänzt - zuvor war dort fälschlicherweise von «5195 Millionen» Fällen die Rede.
Links
WHO: Covid-19-Dashboard für Gibraltar (archiviert)
Bevölkerungszahl vom Statistics Office Gibraltar (archiviert)
Statistik zu Pendlern in Gibraltar (archiviert)
Coronavirus-Impfverordnung beim BMG (archiviert)
Amtliche Einwohnerzahl Deutschlands bei destatis.de (archiviert)
Mitteilung zu Gibraltars Impfprogramm für Minderjährige (archiviert)
RKI: Corona-Fallzahlen in Deutschland (archiviert)
Fallzahlen in Gibraltar (archiviert)
Fallzahlen vom Public Health Department Gibraltar (archiviert)
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