Offener Brief eines Journalisten enthält einige Falschbehauptungen über Corona

22.10.2021, 14:11 (CEST), letztes Update: 23.10.2021, 11:28 (CEST)

In einem offenen Brief hat ein Journalist die Pandemie-Politik in Deutschland und die Corona-Berichterstattung deutscher Medien heftig kritisiert. Der Mann arbeitet auch für den Südwestrundfunk (SWR), der offene Brief hat mit seiner Arbeit für den öffentlich-rechtlichen Sender nichts zu tun. Der offene Brief erschien am 5. Oktober 2021 auf der Seite «multipolar-magazin.de». «Jegliche Informationen, Beweise oder Diskussionen, die im Gegensatz zum offiziellen Narrativ stehen, [werden] unterbunden», heißt es darin, ohne dies statistisch belegt wäre. Weiterhin stellt er diverse Behauptungen über das Coronavirus als Tatsache hin. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) nahm einige seiner Aussagen unter die Lupe.

Behauptung

Covid-19-Genesene sind mindestens genauso gut geschützt wie Geimpfte.

Bewertung

Richtig.

Fakten

Die Gesellschaft für Virologie sieht in einer Stellungnahme von Ende September 2021 die Einschätzung als «mittlerweile überholt» an, dass eine durchgemachte Corona-Infektion nur eine kurzlebige Immunität nach sich ziehe. Davon sei etwa zu Pandemiebeginn ausgegangen worden.

Studien aus mehreren Ländern hätten gezeigt, dass Genesene sehr gut geschützt sind - auch gegen Virusvarianten wie Delta. Den Experten zufolge ist in den ersten sechs Monaten der Schutz vor erneuter Infektion «mindestens so gut ausgeprägt wie der Schutz von vollständig Geimpften». Auch nach einem Jahr zeigten Genesene noch sehr guten Schutz vor Infektionen und schweren Covid-19-Verläufen.

Behauptung

Geimpfte verbreiten die Delta-Variante genauso stark wie Ungeimpfte.

Bewertung

Das ist noch nicht abschließend erforscht.

Fakten

Dass sich überhaupt geimpfte Menschen infizieren können, ist für Wissenschaftler zunächst keine Überraschung. Studien haben tatsächlich ergeben, dass Geimpfte zumindest am Anfang einer Infektion genauso viel Virusmaterial der Delta-Variante in sich tragen können wie Ungeimpfte. Dabei wurde jedoch nur gemessen, welche Menge vorhanden war - und nicht, ob es sich auch um ansteckendes Virus handelt. Hohe Viruslasten deuten zwar auf ein erhöhtes Übertragungsrisiko hin, abschließend geklärt ist das aber noch nicht.

«Es kann Unterschiede geben im zeitlichen Verlauf der Viruslast und bei der Frage, wie lebensfähig und infektiös dieses Virus ist», sagte Carsten Watzl, Immunologe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der Technischen Universität Dortmund Ende August 2021 der Deutschen Presse-Agentur. Ein infizierter Geimpfter sei aber «sicherlich nicht "gar nicht" ansteckend». Der Wissenschaftler Christian Erdmann hatte sich zuvor ähnlich geäußert: «Es ist grundsätzlich schwierig, aus der reinen Viruslast die Übertragungsgefahr abzuleiten», sagte der Mitbegründer der Denkfabrik «RapidTests».

Die Faktenchecker von Correctiv weisen zudem auf eine vorveröffentlichte Studie aus Großbritannien hin, nach der infizierte Geimpfte trotz ähnlich hoher Viruslast das Coronavirus seltener übertragen könnten als Ungeimpfte. Das müsse aber noch weiter untersucht werden, so die Studienmacher.

Über die unklare Lage bei der Delta-Verbreitung durch Geimpfte berichtete unter anderem der SWR.

Behauptung

Die Rockefeller-Stiftung und die Gates-Foundation haben die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die digitalen Impfpässe entworfen und finanziert.

Bewertung

Die Stiftungen haben die Richtlinien nicht entworfen, sondern nur mit anderen Geldgebern an der Finanzierung mitgewirkt.

Fakten

In einem WHO-Dokument vom August 2021 zum Thema digitaler Impfnachweis heißt es, dass die Arbeit unter anderem von der Bill und Melinda Gates Stiftung, der Regierung Estlands, von Kuwait und der Rockefeller-Stiftung finanziert wurde. Die WHO schreibt dazu: «Die Ansichten der Förderer haben den Inhalt dieses Dokuments nicht beeinflusst.» Die WHO listet in dem Dokument Dutzende externe Experten - darunter Universitätsangehörige und nationale Gesundheitsexperten - auf, die an der Arbeit mitgewirkt haben.

Die Unterstützung bei der Finanzierung des Projekts vonseiten der Gates-Stiftung ist nicht überraschend, da sie zu den größten Geldgebern der WHO zählt. Im Budgetzeitraum 2020/2021 flossen Spenden der Gates-Stiftung in Höhe von Hunderten Millionen Dollar in WHO-Projekte - damit gilt sie als zweitgrößter Geldgeber nach Deutschland, noch vor der EU und den USA. In der Vergangenheit waren auf Demos gegen die Corona-Beschränkungen und in sozialen Medien wiederholt falsche Behauptungen gegen die Stiftung und Bill Gates selbst aufgekommen.

Behauptung

Die Niederlande melden deutlich mehr Nebenwirkungen der Covid-19-Impfstoffe als andere Länder.

Bewertung

Aus den Niederlanden kommen die meisten Verdachtsmeldungen, Nebenwirkungen sind das keine. Die EMA-Datenbank lässt keine abschließenden Schlussfolgerungen über Impfrisiken zu.

Fakten

Nach Angaben der Europäischen Arzneimittelagentur EMA sind bei allen vier in der EU zugelassenen Impfstoffen die Niederlande Spitzenreiter bei den Verdachtsmeldungen. Mehr als 158 000 Meldungen sind für das Land seit Beginn der Impfungen Ende 2020 bis zum 19. Oktober in der Datenbank eingelaufen. Zum Vergleich: Für das viel bevölkerungsreichere Deutschland verzeichnet die EMA im selben Zeitraum rund 95 000 Meldungen. Allerdings sind das alles keine Nebenwirkungen, sondern Verdachtsfälle.

Die EMA sammelt medizinische Ereignisse, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer Corona-Impfung beobachtet werden, die aber nicht notwendigerweise damit in Zusammenhang stehen oder von dem Impfstoff verursacht werden. «Angaben zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen dürfen nicht so verstanden werden, als hätte das Arzneimittel oder der Wirkstoff die beobachtete Wirkung verursacht oder als sei das Arzneimittel oder der Wirkstoff nicht sicher in der Anwendung», heißt es von der EMA.

Mit anderen Worten: In der EMA-Datenbank werden Symptome gesammelt, die nach einer Impfung beobachtet werden. Sie müssen jedoch mit der Impfung nicht unbedingt in Zusammenhang stehen oder davon ausgelöst worden sein. Auch andere Faktoren können Symptome auslösen. Auf Basis dieser Datenbank können daher keine Schlussfolgerungen über Nutzen oder Risiken getroffen werden. Auch kann die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Nebenwirkung auftritt, nicht abgeschätzt werden.

Behauptung

Indien habe die Corona-Situation schnell unter Kontrolle gebracht dank des Mittels Ivermectin. Der Schreiber des Briefes behauptet, das sei in Deutschland nicht berichtenswert gewesen.

Bewertung

Der Nutzen von Ivermectin ist stark umstritten. In Deutschland gibt es Medien (darunter den SWR), die über den Einsatz des Mittels in Indien und auch mögliche positive Effekte berichtet haben.

Fakten

Die Universität Oxford testete in einer Studie die Wirksamkeit des Anti-Wurmmittels Ivermectin. Im Juni 2021 heißt es, dass das Mittel in kleinen Laborstudien vielversprechende Ergebnisse erzielt habe: Eine frühe Verabreichung von Ivermectin reduziere die Viruslast und die Dauer der Symptome bei einigen Patienten mit leichter Erkrankung, so die damalige Erkenntnis.

Deutsche Medien wie die «Süddeutsche Zeitung» und der SWR, Haussender des Rundfunk-Mitarbeiters, berichteten damals darüber.

Mittlerweile gilt das Mittel jedoch als umstritten in Bezug auf die Wirksamkeit. Forscher des Uni-Klinikums Würzburg finden im Juli 2021 in ihrer übergreifenden Analyse von mehr als einem Dutzend klinischen Studien keine Hinweise, dass Ivermectin den Zustand von Erkrankten verbessere oder die Zahl der Todesfälle reduziere. Das Robert Koch-Institut (RKI) warnt vielmehr vor heftigen Nebenwirkungen und empfiehlt einen Einsatz «nur im Rahmen von kontrollierten klinischen Studien».

Indien erlebte im April und Mai eine heftige Corona-Welle. Nach offiziellen Angaben der Regierung war das südasiatische Land in der Folge aber nicht dank des Anti-Wurmmittels wieder zu niedrigeren Infektionszahlen gelangt. Die Regierung verabschiedete sich jüngst von Ivermectin als zuverlässiger Behandlungsmethode.

Der Mitarbeiter, der den offenen Brief verfasste, ist nach SWR-Angaben im Sound-Design des Kultur-Radiosenders SWR2 tätig. Er sei nicht eingebunden in die redaktionelle Arbeit der Fachredaktionen, schreibt eine Sprecherin am 20. Oktober auf dpa-Anfrage. Er habe «keine übergreifende Sicht auf Themenplanung und -entwicklung».

(Stand: 20.10.2021)

Links

Gesellschaft für Virologie über Genesene (archiviert)

EMA-Datenbank zu Verdachtsfällen auf Arzneimittel-Nebenwirkungen (Im EMA-Verdachtsfälle-Portal finden sich unter "C" die Einträge der Covid-Impfstoffe; bei jedem der vier Mittel werden im dritten Reiter (Tab) die Verdachtsmeldungen pro EU-Land angegeben.)

EMA über Verdachtsfälle (archiviert)

Studien zur Viruslast bei der Delta-Variante (archiviert)

Watzl über Infektiosität bei Delta-Variante (archiviert)

Erdmann über Infektiosität bei Delta-Variante (archiviert)

SWR über Ansteckungsrisiko bei Geimpften (archiviert)

Correctiv-Faktencheck über Ansteckungsrisiko bei Geimpften (archiviert)

SWR-Ausweis des Mitarbeiters (archiviert)

WHO-Dokument zu Impfpass-Richtlinien (archiviert)

WHO über ihre Geldgeber 2020/2021 (archiviert)

dpa-Bericht zu Falschbehauptungen über Gates (archiviert)

dpa-Faktencheck über EMA-Datenbank

Uni Oxford zu Ivermectin (archiviert)

Uni Würzburg zu Ivermectin (archiviert)

RKI über Ivermectin und andere Corona-Medikamente (archiviert)

Indische Corona Task Force über Ivermectin (archiviert)

Offener Brief des SWR-Mitarbeiters (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com