Statistische Abweichungen beweisen keinen Wahlbetrug

13.10.2021, 10:31 (CEST)

Die Rechtmäßigkeit der Bundestagswahl wird von Verschwörungsideologen weiterhin in Abrede gestellt - und das teils mit hanebüchenen Argumenten. So soll zum Beispiel eine wissenschaftliche Analyse von 2011 seit Jahren dafür herhalten, dem demokratischen Prozess in Deutschland die Legitimität abzusprechen. Die Studie um das sogenannte Benfordsche Gesetz beweise, dass Wahlfälschung «in Deutschland keine Ausnahme, sondern die Regel» sei, heißt es (archiviert).

Bewertung

Falsch. Die Autoren der Studie selbst weisen solch eine Interpretation weit von sich. Ihre Analyse zeigt allein, dass einige Wahlergebnisse von der mathematisch-statistischen Regel des US-Physikers Frank Benford (1883-1948) abweichen - nicht aber, dass manipuliert worden wäre.

Fakten

Im Jahr 2011 veröffentlichen die Politikwissenschaftler Christian Breunig (damals Toronto, heute Konstanz) und Achim Goerres (damals Köln, heute Duisburg) einen Aufsatz über die Bundestagswahlen der Jahre 1990 bis 2005 in Deutschland - und der Anwendung des sogenannten Benfordschen Gesetzes. Dieses ist eine mathematische Gesetzmäßigkeit über die Verteilung von Ziffern in einer Statistik.

In der Studie werden die etwa 80 000 Wahlbezirke Deutschlands analysiert. Für die Parteien CDU, CSU, SPD und PDS/Linke (letztere nur in den neuen Bundesländern) sowie deren Direktkandidaten zählen die Autoren die Anzahl der Ziffern an der zweiten Stelle der Stimmergebnisse - und vergleichen deren Häufigkeit mit der allgemein erwarteten Häufigkeit dieser Ziffern nach dem Benfordschen Gesetz.

Dabei haben die Autoren festgestellt, dass sich die Statistik der Bundestagswahlen an bestimmten Stellen nicht mit der mathematisch-statistischen Regel deckt. Allerdings: Die Ergebnisse der Untersuchung dürften «nicht Anlass zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlauszählung» sein, schreibt etwa Goerres bereits im November 2013 über die Studie.

Aber was ist das Benfordsche Gesetz? Grob gesagt: Die Ziffern 0, 1, ... 9 verteilen sich - wenn nicht eingegriffen wird - auf natürliche Weise nach einer gewissen Häufigkeit. Die 1 steht etwa öfter als jede andere Ziffer an erster Stelle einer Zahl. Zu erkennen zum Beispiel an Hausnummern: Straßen beginnen in der Regel mit der 1, doch nicht alle haben etwa 80 oder 90 Hausnummern. Hier ist die 1 die häufigste Anfangsziffer.

Abweichungen vom Benfordschen Gesetz, erklären die Autoren Breunig und Goerres, «werden als Hinweis auf Unregelmäßigkeiten - entweder vorsätzlicher Betrug oder unbeabsichtigtes menschliches Versagen - bei der Stimmenauszählung interpretiert».

Die beiden kommen aber zu der Erkenntnis: «Es gibt keine Hinweise auf systematischen Betrug oder Missmanagement bei den Kandidatenstimmen aus Bezirken, in denen Betrug am ehesten möglich wäre.» Auf der Ebene der Bundesländer fanden sie 51 Abweichungen gegen die mathematische Gesetzmäßigkeit bei 190 Prüfungen der Listenstimmen (also der Zweitstimmen) der Parteien. Was diese jedoch verursacht haben könnte, dafür liefert die Analyse keine Erklärung.

Die Studienmacher stellen vielmehr Hypothesen auf - etwa, dass die Zusammensetzung der Wahlhelfenden die Wahrscheinlichkeit von Verstößen gegen das Benfordsche Gesetz erhöhen könnte. Sie geben mit auf den Weg: «Eine repräsentative Studie über die Freiwilligen (...) könnte Aufschluss darüber geben, inwieweit soziale oder politische Vorurteile im Spiel sein könnten.»

«Insgesamt offenbaren die Ergebnisse dieser Tests, dass es wenig Grund zur Beunruhigung gibt», schreibt Goerres 2013. «Dafür, dass der Wahlprozess in Deutschland sehr komplex und vielschichtig ist, gab es erstaunlich wenige Verletzungen des Benfordschen Gesetzes.»

Dem «Bildblog» bestätigte Goerres im Frühjahr 2016, dass seine Studie falsch wiedergegeben und gern von extremen Parteien für Verschwörungstheorien herangezogen werde.

Im Jahr 2011 schreibt der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder (CDU), im Namen der Bundesregierung über die Studie von Breunig und Goerres: Diese belege keine Fehler bei der Ermittlung von Wahlergebnissen vergangener Bundestagswahlen, «geschweige denn eine vorsätzliche Herbeiführung falscher Wahlergebnisse in manipulativer Absicht». Abweichungen zur Benfordschen Verteilung könnten «allenfalls spekulative Hinweise auf mögliche Unregelmäßigkeiten liefern».

Zur Bundestagswahl 2009 etwa erklärt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die regelmäßig Wahlbeobachter entsendet: «Die Wahlen vollzogen sich in einem offenen, pluralistischen und wettbewerbsorientierten Prozess, basierend auf der Achtung der Grundfreiheiten, gleichen Bedingungen für alle Bewerberinnen und Bewerber, der Effizienz und Professionalität der Wahlorgane und einem hohen Maß an öffentlichem Vertrauen in die allgemeine Integrität des Wahlprozesses.»

Der Vorwurf, über das Benfordsche Gesetz könne Wahlmanipulation nachgewiesen werden, gibt es auch in anderen Ländern. Mit Blick auf die USA haben mehrere Wissenschaftler und Forscherinnen der Nachrichtenagentur Reuters bestätigt: Abweichungen von der Gesetzmäßigkeit seien kein Beweis für Wahlbetrug. Auch die Deutsche Presse-Agentur hatte bereits darüber in einem Faktencheck berichtet.

Hinsichtlich der Breunig-Goerres-Studie und Deutschland kommen auch die Faktenchecker von Correctiv zur selben Schlussfolgerung.

(Stand: 12.10.2021)

Links

Goerres/Breuning-Analyse zu Bundestagswahlen (archiviert)

Wissenschaftler Goerres über eigene Analyse (archiviert)

ETH Zürich über Benfordsches Gesetz (archiviert)

Bundesregierung über Goerres/Breuning-Analyse, S. 12280, Anlage 24 (archiviert)

OSZE über Bundestagswahl 2009 (archiviert)

«Bildblog» über Goerres/Breuning-Analyse (archiviert)

Reuters-Faktencheck über Benfordsches Gesetz/Wahlen (archiviert)

dpa-Faktencheck über Benfordsches Gesetz bei US-Wahlen

Correctiv über Goerres/Breuning-Analyse (archiviert)

Artikel mit Falschbehauptung über angeblichen Wahlbetrug (archiviert)

Artikel mit Falschbehauptung über angebliche Wahlfälschung (archiviert)

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