Deutschland ist nicht klimaneutral - falsche Berechnungen zur CO2-Bilanz

17.9.2021, 15:56 (CEST)

Eine vermeintlich einfache Rechnung in einem Facebook-Posting (hier archiviert) kommt zu einem überraschenden Schluss: «Deutschland ist mehr als klimaneutral.» Gegenübergestellt werden zwei Werte - der angebliche CO2-Ausstoß des Landes und die angebliche Menge CO2, die durch Bäume in Deutschland gebunden werde. Aber stimmen die Angaben?

Bewertung

Deutschland strebt die Klimaneutralität zwar an, hat sie aber noch nicht erreicht. Die Rechnung im Facebook-Posting beruht auf falschen Annahmen, denn Bäume binden nur zu einem kleinen Teil CO2, das durch menschliche Aktivität ausgestoßen wird. Der größte Teil stammt aus dem natürlichen Kohlenstoffkreislauf.

Fakten

Die auf Facebook präsentierte Rechnung besteht aus zwei Teilen. Zunächst geht es um den jährlichen deutschen CO2-Ausstoß. Dieser wird mit einer auf den ersten Blick nachvollziehbar wirkenden Rechnung ermittelt: Der jährliche Pro-Kopf-Ausstoß in Deutschland, der auf einem Statistik-Portal für das Jahr 2019 mit 7,9 Tonnen angegeben wird, wird mit der Einwohnerzahl von rund 83 Millionen multipliziert. Das Ergebnis ergibt gerundet tatsächlich 660 Millionen Tonnen CO2.

Bei dieser Rechnung gibt es jedoch ein Problem, wie Dirk Günther erläutert, der Leiter des Fachgebiets Emissionssituation beim Umweltbundesamt (UBA) in Dessau ist. «Das ist eine sehr holzschnittartige Berechnung», sagt Günther auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur.

Schon bei der Zahl 7,9 zeigen sich einige Probleme. Sie stammt ursprünglich aus einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums, beschreibt aber lediglich den energiebedingten Pro-Kopf-Ausstoß. Energiebedingte Emissionen machen nach UBA-Angaben jedoch nur etwa 85 Prozent des deutschen Treibhausgasausstoßes aus.

Zudem werden Pro-Kopf-Emissionen in den meisten Berechnungen nicht ermittelt, indem ein Gesamtwert eines Landes auf die Einwohnerinnen und Einwohner verteilt wird. Denn solche Gesamtzahlen erfassen in der Regel nur die Emissionen, die auch auf dem Gebiet des Landes entstanden sind.

Bei Pro-Kopf-Werten wie dem sogenannten CO2-Fußabdruck werden auch Emissionen in sogenannten «Vorketten» berücksichtigt - zum Beispiel wenn Menschen Waren kaufen, bei deren Produktion im Ausland Emissionen entstanden sind. Laut UBA lag ein solcher Pro-Kopf-Ausstoß, der auch Vorketten berücksichtigt, im Jahr 2019 bei 11,6 Tonnen. Das würde für Deutschland bei ansonsten gleicher Rechnung einen Gesamtwert von mehr als 940 Millionen Tonnen CO2 bedeuten.

Deutlich besser für Vergleiche eignen sich aber die auch von der Politik für Klimabilanzen herangezogenen Gesamtzahlen je Land ohne Vorketten. Diese Menge des in Deutschland im Jahr 2019 ausgestoßenen CO2 wird vom Umweltbundesamt mit rund 711 Millionen Tonnen beziffert. Der Wert wird auf Basis statistischer Daten und Methoden berechnet, die vom Weltklimarat IPCC vorgegeben werden. Damit soll eine internationale Vergleichbarkeit gesichert werden.

«Das ist streng quellenbasiert», sagt Dirk Günther vom UBA. Seine Behörde nutzt zum Beispiel Daten des Statistischen Bundesamts zu Produktionsmengen oder der «Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen» zur Kohleverstromung in Deutschland und multipliziert sie mit einem Faktor, der die dabei entstehenden Emissionen beziffert. Das geschieht auch für weitere Treibhausgase, zum Beispiel Methan - die im Facebook-Beitrag jedoch gar nicht erwähnt werden.

Auch der zweite Teil der Rechnung im Facebook-Post ist fragwürdig. Zugrunde gelegt wird ein natürlicher Prozess: Bäume binden beim Wachsen Kohlenstoff und entziehen ihn so der Atmosphäre. Die Zahl von 90 Milliarden Bäumen in Deutschland stammt vermutlich aus der sogenannten Bundeswaldinventur des Landwirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2012. Unklar ist jedoch, worauf genau sich die Angabe bezieht, ein Baum binde pro Jahr zehn Kilogramm CO2. Tatsächlich kann dieser Wert je nach Ort und Alter des Baumes schwanken.

Vor allem aber kann die Bindung von CO2 durch Bäume in Deutschland nicht einfach den menschengemachten Emissionen gegenübergestellt werden. Denn in dem von deutschen Bäumen jährlich neu gebundenen Kohlenstoff ist laut UBA auch solcher enthalten, der aus dem globalen natürlichen Kohlenstoffkreislauf stammt, also zum Beispiel aus sich zersetzenden Pflanzen, aber auch aus der Atmung von Tieren und Menschen oder der Verwitterung von Gestein.

Die CO2-Menge im natürlichen Kohlenstoffkreislauf sei deutlich größer als die durch Verbrennung von fossilen Rohstoffen, sagt Günther. Und: «Das Problem ist, dass menschengemachte Emissionen da noch obendrauf kommen.» Falsch ist demzufolge die Schlussfolgerung, allein durch das Wachstum der Bäume in Deutschland könnten die menschengemachten Emissionen derzeit kompensiert werden.

Tatsächlich wird die Kohlenstoffbindung durch den Wald auch vom UBA aufgegriffen. Die Behörde weist in ihren Zahlen zu den deutschen Emissionen den sogenannten LULUCF-Bereich aus. Die Abkürzung steht für Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft («Land Use, Land-Use Change and Forestry»). In Deutschland bewirkt dieser Bereich eine Reduktion des CO2-Gesamtausstoßes: Wird er berücksichtigt, liegt der Wert für das Jahr 2019 nur noch bei rund 692 Millionen Tonnen, also fast 20 Millionen Tonnen weniger, als Deutschland ohne Wälder emittieren würde.

Einen belegten Effekt der CO2-Bindung unter anderem durch Bäume gibt es also. Kompensiert wird so aber nur ein sehr kleiner Teil des menschengemachten CO2-Ausstoßes.

Zu der Frage, wann Deutschland tatsächlich klimaneutral sein könnte, gibt es in Studien verschiedene Szenarien. Entscheidender Faktor ist der Umfang der Klimaschutzmaßnahmen. Nach Angaben der Bundesregierung hat Deutschland das langfristige Ziel, «bis zum Jahr 2050 weitgehend treibhausgasneutral zu werden».

(Stand: 16.9.2021)

Links

Quelle der behaupteten Pro-Kopf-CO2-Emissionen (archiviert)

Statistisches Bundesamt zur Einwohnerzahl in Deutschland (archiviert)

Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums (Download Exceltabelle) (archiviert)

Umweltbundesamt zu energiebedingten Emissionen (archiviert)

Umweltbundesamt zur Methodik (archiviert)

Tabelle des Umweltbundesamts (Download Exceltabelle) (archiviert)

Öko-Institut über Vorketten (archiviert)

Umweltbundesamt zum Pro-Kopf-Ausstoß (19.9.2019) (archiviert)

«Handelsblatt» über Emissionsdaten 2020 (16.3.2021) (archiviert)

Informationen zur CO2-Bindung durch Bäume (archiviert)

Informationen zur Bundeswaldinventur 2012 (archiviert)

«Spektrum» über den Kohlenstoffkreislauf (archiviert)

Informationen zum LULUCF-Bereich (archiviert)

Studie «Klimaneutrales Deutschland» (Juni 2021) (archiviert)

Bundesumweltministerium zu Klimaschutzzielen (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com