Freigespültes Rohr in Erftstadt-Blessem ist kein unterirdischer Fluss, sondern ein Abwasserkanal

22.7.2021, 14:42 (CEST)

Gibt es eine banale Erklärung für einige der Schäden der Hochwasserkatastrophe in Westdeutschland? Das behauptet zumindest ein Facebook-Nutzer (archiviert). Zu einem Foto eines vom Wasser freigespülten Rohres unter einer Straße im stark betroffenen Ort Erftstadt-Blessem in Nordrhein-Westfalen schreibt er: «Hier wurde ein Bach einfach unterirdisch umgeleitet. Anscheinend völlig falsch berechnet und gebaut. Und das sind die wahren Ursachen der Katastrophe und nicht das "Klima"».

Bewertung

Bei dem Rohr handelt es sich nach Angaben der Stadt Erftstadt um einen Abwasserkanal. Auch auf Karten ist genau an diesem Ort kein Bach verzeichnet. Die Schäden im Stadtteil Blessem wurden vom Hochwasser des nahegelegenen Flusses Erft verursacht. Dass Extremwetter-Ereignisse - wie nun in Westdeutschland - durch den Klimawandel begünstigt werden, ist wissenschaftlich unumstritten.

Fakten

Das im Netz kursierende Foto wurde von einem dpa-Fotografen aufgenommen und stammt aus dem Erftstadter Stadtteil Blessem. Es zeigt die dortige Radmacherstraße. Die noch stehenden Häuser sind auf älteren Aufnahmen von Google Maps zu erkennen. Nachdem die verheerenden Hochwasser dort und an einer nahegelegenen Kiesgrube große Landmassen einfach fortgeschwemmt haben, ist von der Straße auf dem Foto jedoch kaum noch etwas zu sehen. Zwischen Trümmern sticht ein großes Rohr hervor, das sich zuvor offenbar unter der Straßendecke befand.

Über diese große Leitung schreibt ein Facebook-Nutzer, dass es sich nicht um eine Kanalisation handele, sondern um einen unterirdisch umgeleiteten Bach. Diese angebliche Verrohrung eines natürlichen Gewässers soll, so die Behauptung, eine Ursache der Katastrophe sein.

Die Behauptung ist jedoch falsch. Wie die Stadt Erftstadt in einer Mitteilung vom 21. Juli 2021 auf ihrer Webseite schreibt, handelt es sich um einen Mischwasserkanal, also einen Abwasserkanal. «Er gehört zur städtischen Kanalisation und dient der Wasserableitung. [...] Es handelt sich hier somit nicht um einen unterirdischen verrohrten Fluss», heißt es in der Mitteilung.

Auf Online-Kartendiensten wie Google Maps, aber auch im offiziellen Geoportal des Landes Nordrhein-Westfalen ist an der Stelle auch gar kein Bach eingezeichnet, der unter der Straße gelegen haben könnte. Auch auf Satellitenbildern aus dem Jahr 1977 ist dort kein Bach zu sehen.

Die nächsten Gewässer sind der Fluss Erft einige hundert Meter weiter westlich, der auch die schweren Überschwemmungen im Ort verursachte. Östlich des Stadtteils von Erftstadt fließt ein Bach, der Liblarer Mühlengraben.

Auch ein genauerer Blick auf das Rohr zeigt, dass es sich um einen Abwasserkanal handelt. Auf einem Foto der aufgerissenen Straße, das der Kölner Stadt-Anzeiger («KStA») veröffentlichte, sind Anschlüsse für die umliegenden Häuser zu erkennen. Auf einem größeren Ausschnitt des auf Facebook verbreiteten Fotos ist zu erkennen, dass das Rohr Teil eines größeren Systems war. Eine Kläranlage befindet sich ein Stück außerhalb des Orts.

Einige Meter nordwestlich der betroffenen Straßenkreuzung befand sich bis zum Hochwasser eine Kanalöffnung, wie auf Satellitenbildern zu sehen ist. Dass dort ein Bachlauf austritt, ist aber nicht zu erkennen. Vielmehr scheint es sich um einen Sickergraben oder Vorfluter zu handeln, wie Online-Karten des Rhein-Erft-Kreises nahelegen.

In einem sogenannten Mischwasserkanal wird neben Schmutzwasser zum Beispiel aus Haushalten auch Regenwasser abgeleitet. Während des Hochwassers dürfte aber neben dem Fluss Erft auch der Kanal die Wassermaßen nicht mehr bewältigt haben. Vom Rhein-Erft-Kreis veröffentlichte Luftaufnahmen zeigen, wie das Wasser zwischenzeitlich an vielen Stellen des Ortes in den Straßen stand.

Eine der Aufnahmen zeigt auch, dass die Landmassen an der nahegelegenen Kiesgrube von mehreren Seiten fortgespült wurden. Das Wasser bahnte sich offenbar auch über die Felder zwischen Erft, Kiesgrube und dem Ort Blessem seinen Weg. Dass allein ein angeblich kanalisierter Bach Ursache der Verwüstung sein soll, widerspricht nicht nur der Mitteilung der Stadt Erftstadt, sondern auch allen Eindrücken vom Ort der Katastrophe.

Ganz allgemein können Flächenversiegelung sowie Begradigungen und Kanalisierungen von Fließgewässern Hochwasser tatsächlich begünstigen. Inwiefern das in Blessem eine Rolle spielte, steht noch nicht abschließend fest. Die Erft verläuft dort nicht in einem natürlichen Flussbett.

Klimaforscher wiederum sind häufig vorsichtig, einzelne Extremwetterlagen wie zuletzt in Westdeutschland in einen kausalen Zusammenhang mit dem Klimawandel zu rücken. Dass Ereignisse wie extreme Regenfälle und umgekehrt auch lange Trockenperioden durch die menschengemachte Erderwärmung häufiger auftreten, gilt wissenschaftlich aber als gesichert.

Experten raten deshalb neben Klimaschutz auch zur Klimaanpassung, also zur Vorbereitung von Städten und Infrastruktur auf Extremwettereignisse. Dazu können auch Renaturierungen von Gewässern beitragen. Der Naturschutzbund Deutschland empfiehlt, an Flüssen wieder auf natürliche Gewässerverläufe mit Auen und Überflutungsflächen zu setzen.

(Stand: 22.7.2021)

Links

dpa-Luftaufnahme in der «Lahrer Zeitung» (archiviert)

Ort der Aufnahme auf Google Maps (archiviert)

Mitteilung der Stadt Erftstadt (21.7.2021) (archiviert)

Geoportal des Landes Nordrhein-Westfalen (archiviert)

Satellitenbilder aus dem Jahr 1977 (archiviert)

«KStA»-Foto mit Details des Rohrs (archiviert)

Standort der Kläranlage auf Google Maps (archiviert)

Online-Kartendienst des Rhein-Erft-Kreises (archiviert)

Informationen zur Mischwasserkanalisation (archiviert)

Luftaufnahmen des Rhein-Erft-Kreises via Twitter (archiviert)

Landschaftshistoriker bei «Zeit online» über Hochwasser (archiviert)

Klimaforscher Stefan Rahmstorf im «Tagesthemen»-Interview (15.7.2021) (archiviert, Video)

dpa-Meldung mit Zitaten zur Klimaanpassung (16.7.2021) (archiviert)

Naturschutzbund zu Gewässern und Klimawandel (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

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