Mitterrand-Vertrauter Attali wird falsch zitiert

20.04.2021, 21:18 (CEST)

Jacques Attali (77), ein französischer Wirtschaftswissenschaftler und von 1981 an für zehn Jahre ein enger Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand, ist angeblich ein Befürworter der Euthanasie alter und kranker Menschen. Und angeblich hat er auch schon vor langem den Plan der Herrschenden, die Überbevölkerung durch eine Virus-Epidemie zu bekämpfen, verraten.

BEWERTUNG: Die in verschiedenen Facebook-Posts Attali zugeschriebenen Zitate sind entweder frei erfunden, entstellt oder aus dem Zusammenhang gerissen.

FAKTEN: Attali (hier archiviert) war ab 1981 Sonderberater Mitterrands und wurde im April 1991 Präsident der von ihm mitgegründeten Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Diesen Posten verließ er im Juni 1993 nach Streit mit europäischen Regierungschefs wieder. Attali ist Verfasser zahlreicher Bücher.

In Facebook-Posts wird Attali unter anderem folgendes Zitat in den Mund gelegt: «In Zukunft wird es darum gehen, einen Weg zu finden, die Population zu reduzieren. Wir fangen mit den Alten an, denn sobald sie 60-65 Jahre überschreiten, lebt der Mensch länger als er produziert und das kommt die Gesellschaft teuer zu stehen. Dann die Schwachen, dann die Nutzlosen, die der Gesellschaft nichts bringen, weil es immer mehr von ihnen geben wird, und vor allem schließlich die Dummen. Euthanasie, die auf diese Gruppen abzielt. Euthanasie wird ein wesentliches Instrument unserer zukünftigen Gesellschaften sein müssen, in allen Fällen. Natürlich werden wir nicht in der Lage sein, Menschen hinzurichten oder Lager zu errichten.»

Attali hat dies nicht gesagt. Dieses erfundene Zitat beruht allem Anschein nach auf Bruchstücken eines Gesprächs (hier archiviert) mit Attali, das in dem 1981 von Michel Salomon herausgegebenen Buch «L’avenir de la vie» (Die Zukunft des Lebens) enthalten ist. Darin antwortet der Sozialist Attali (Seite 273) auf die Frage, ob es möglich und wünschenswert sei, 120 Jahre alt zu werden, unter anderem: «Zunächst einmal glaube ich, dass in der Logik des industriellen Systems, in dem wir uns befinden, die Verlängerung der Lebensdauer nicht länger ein Ziel ist, das von der Logik der Mächtigen gewünscht wird.» Solange man die Lebenserwartung verlängert habe, «um das Maximum der Rentabilität der Maschine Mensch im Sinne der Arbeitswelt zu erreichen», sei das perfekt gewesen. Er fügt dann hinzu: «Aber sobald man die 60 oder 65 Jahre überschreitet, lebt der Mensch länger als er produziert und er wird teuer für die Gesellschaft.»

Deshalb glaube er, dass es in der Logik der Industriegesellschaft liege, nicht die Lebenserwartung zu verlängern, sondern dafür zu sorgen, dass innerhalb einer bestimmten Lebenszeit der Mensch so gut wie möglich lebe, ohne hohe Krankheitskosten zu verursachen. Aus Sicht der Gesellschaft sei es «besser, wenn die Maschine Mensch plötzlich stoppt und sich nicht allmählich verschlechtert».

Zur Frage nach der Euthanasie in der Welt der Zukunft sagt Attali: «Euthanasie ist in jedem Fall eines der wesentlichen Instrumentente unserer zukünftigen Gesellschaften.» In der Logik der Sozialisten sei das Recht auf Suizid Teil der grundlegenden Freiheiten und daher «ein absoluter Wert in dieser Art von Gesellschaft». «In einer kapitalistischen Gesellschaft werden Tötungsmaschinen, Prothesen, die es ermöglichen werden, das Leben zu eliminieren, wenn es zu unerträglich und wirtschaftlich zu teuer ist, entstehen und zur gängigen Praxis werden. Ich glaube daher, dass Euthanasie, ob als Wert der Freiheit oder als Ware, eine der Regeln der zukünftigen Gesellschaft sein wird.»

In einem anderen Facebook-Post (hier archiviert) wird Attali unter anderem auch mit folgender angeblicher Äußerung zitiert: «Wir werden etwas finden oder verursachen, eine Pandemie, die auf bestimmte (Menschen) abzielt, eine echte Wirtschaftskrise oder nicht, ein Virus, das die Alten oder die Fetten befällt.» Dieses Zitat ist ebenso wie ähnliche andere frei erfunden. Tatsächlich findet sich in dem 1999 bei Editions Fayard erschienenen Buch « Dictionnaire du XXIe siècle » eine völlig andere Passage.

Attali schreibt über seine Vorstellungen vom 21. Jahrhundert: «Im Spiel des Nomadentums von Menschen, Gütern und Arten, könnten große Epidemien auftauchen.» Beispielsweise könne sich das (damals grassierende) Schweinegrippevirus «als ebenso gefährlich erweisen wie dasjenige, das im Winter 1918-1919 fast die Hälfte der Menschheit befallen und 40 Millionen Menschen getötet hat». Epidemien könnten durch die Zerstörung ökologischer Nischen ausgelöst werden. Attali schreibt in dieser Zukunftsvision: «Gemäß den Marktgesetzen behandelt man bevorzugt die erkrankten Reichen statt die Armen zu impfen, bevor sie krank werden»: «Es ist also eine Menge Blutvergießen im Süden zu erwarten.»

Zu den ihm angedichteten Zitaten sagte Attali dem dpa-Faktencheck: «Wie kann man sich vorstellen, dass ich verrückt genug bin, um so etwas zu schreiben?» Er hat in Frankreich mehrere Prozesse gewonnen, in denen er Personen, die ihn wegen der Äußerungen von 1981 als Befürworter der Euthanasie bezeichneten, wegen übler Nachrede verklagte.

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Links:

Facebook-Post: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10220730869795841&id=1059802937 (archiviert: https://archive.ph/V7sMs)

Facebook-Post: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=480376199980306&id=100040237912966 (archiviert: https://archive.ph/L7mrN)

Attali-Biografie: http://www.attali.com/biographie/ (archiviert : http://dpaq.de/FrgCq)

Zitate Attali: http://laissezlesvivre.free.fr/archives/euthanasie/controverse_attali.htm (archivé: http://dpaq.de/CPPxS)

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