Verdachtsfälle werden häufiger gemeldet, nicht tatsächliche Nebenwirkungen

19.04.2021, 11:01 (CEST)

Die zugelassenen Covid-19-Impfstoffe sollen dazu beitragen, die Coronapandemie einzudämmen. Doch dafür muss die Bevölkerung mehrheitlich bereit sein, sich impfen zu lassen. Selten auftretende Komplikationen haben Verunsicherung ausgelöst - darüberhinaus wird immer wieder behauptet, die Zahl der Impfnebenwirkungen würde seit Beginn der Corona-Impfungen unverhältnismäßig in die Höhe schießen. In einem Blogbeitrag (hier archiviert) ist von einer «Explosion» die Rede.

BEWERTUNG: Zum einen wird ausgelassen, dass es bei den Zahlen nicht um tatsächliche Impfnebenwirkungen, sondern um Verdachtsfälle nach Impfungen geht. Zum anderen wurde von offizeller Stelle sogar erwartet, dass diese Zahlen mit Beginn der Covid-19-Impfkampagne stark steigen würden. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Der Beitrag interpretiert also Zahlen falsch und lässt Kontext vermissen.

FAKTEN: Nach Einschätzung des Paul-Ehrlich-Instituts ist die Zahl der Meldungen der Verdachtsfälle nach Impfungen unter anderem deshalb gestiegen, weil die Covid-19-Impfstoffe «zum Teil sehr reaktogen» sind. So treten etwa deutlich häufiger grippeähnliche Symptome auf als bei anderen Impfstoffen - und sie fallen deutlich stärker aus, teilte eine Sprecherin auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Das könne ein Zeichen dafür sein, dass die Immunsysteme der Geimpften sehr gut reagieren und arbeiten.

Hinzu komme, dass es sich um ganz neue Impfstoffe handle - zum Teil nach einem bisher nicht genutzten Konzept. Dazu zählen die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna. «Neue Impfstoffe führen immer zu einer erhöhten Melderate, einfach weil die Aufmerksamkeit sowohl der Geimpften wie auch der Impfenden stark sensibilisiert ist. […] Und das ist gut so, denn so können wir sicher sein, auch sehr seltene Nebenwirkungen, die ein Risikosignal darstellen könnten, frühzeitig zu entdecken», sagte die Sprecherin. Vergleichbare Effekte hätten sich bereits zuvor eingestellt. Beispielsweise bei der Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) und bei der Impfung mit dem Zoster-Impfstoff.

In dem irreführenden Blogbeitrag werden zwei Datensätze miteinander verglichen: Die Verdachtsmeldungen im Zusammenhang mit der Corona-Impfkampagne und die Zahlen einer Langzeitauswertung, bei der es um die Auswertung aller Verdachtsmeldungen zu sämtlichen Impfstoffen zwischen Anfang 2000 und Ende 2020 geht. In diesem Zeitraum haben sich einige Dinge geändert, die dazu beigetragen haben, dass immer häufiger Verdachtsfälle nach Impfungen gemeldet werden. Die Zahlen sind daher nur schwer miteinander zu vergleichen.

So wurde Ende 2012 beispielsweise das Arzneimittelgesetz neu gefasst. Laut einem Bericht auf der Ärzteblatt-Homepage können Patientinnen und Patienten seither Nebenwirkungen selber melden. Auf diese Möglichkeit muss seitdem die Packungsbeilage mit einem Standardtext aufmerksam machen, «durch den die Patienten ausdrücklich aufgefordert werden, jeden Verdachtsfall einer Nebenwirkung ihren Ärzten, Apothekern, Angehörigen von Gesundheitsberufen oder unmittelbar der zuständigen Bundesoberbehörde zu melden, wobei die Meldung in jeder Form, insbesondere auch elektronisch, erfolgen kann», heißt es.

Für die Covid-19-Impfkampagne gibt es sogar einen speziellen Meldebogen vom Paul-Ehrlich-Institut - zusätzlich zum allgemeinen Formular. Dieser Meldebogen kann anonym und ohne Prüfung ausgefüllt werden. Nachweise für den Verdacht auf eine Impfreaktion müssen nicht erbracht werden. Die Zahl der Verdachtsmeldungen kann also selbst dann steigen, wenn jemand eine Nebenwirkung einträgt obwohl er keine Symptome zeigt.

In dem verbreiteten Blog-Beitrag ist auch der Umgang mit der Zahl der nach einer Impfung gestorbenen Patienten irreführend. Es wird behauptet, dass alleine in den ersten acht Wochen des Verimpfens der Corona-Impfungen 330 Menschen im Zusammenhang mit den Impfstoffen gestorben seien. Das Paul-Ehrlich-Institut stellt auf Anfrage klar, dass es bis zum 15.3. weder in Deutschland noch in der EU Hinweise darauf gab, dass Menschen wegen der Covid-Impfung gestorben sind. «Für alle gemeldeten Fälle ließen sich andere plausible Erklärungen finden bzw. sie lagen im Bereich dessen, was in den betreffenden Altersgruppen auch ohne Impfung an Todesfällen zu erwarten war», teilte die Sprecherin mit.

Ähnlich wird es auch im «Sicherheitsbericht» vom 04.03. formuliert: «Berücksichtigt man die berichteten Fälle mit unklarer Todesursache […], beträgt die standardisierte Mortalitätsrate […] 0,77 […]. Das bedeutet, dass die beobachtete Anzahl an Fällen mit unklarer Todesursache nach Impfung die erwartete Anzahl an Fällen von plötzlichem Tod oder Tod unbekannter Ursache ohne Impfung nicht übersteigt.»

Da in dem Blog-Beitrag die Zahlen nicht eingeordnet werden und verschwiegen wird, dass es sich nicht um tatsächliche Nebenwirkungen sondern um Verdachtsmeldungen handelt, entsteht fälschlicherweise der Eindruck, Covid-19-Impfstoffe seien deutlich gefährlicher als andere Vakzine.

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Links:

Beitrag auf corona-blog.net: https://corona-blog.net/2021/03/12/explosion-der-impfnebenwirkungen-seit-beginn-der-coronavirus-schutzimpfungen-im-vergleich-der-letzten-20-jahre/ (archiviert: https://archive.ph/rrTZk)

Covid-19-Meldeformular für Nebenwirkungen: https://nebenwirkungen.bund.de/nw/DE/home/home_node.html (archiviert: https://archive.ph/lkpIN)

PEI-Sicherheitsbericht vom 04.03.: https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/dossiers/sicherheitsberichte/sicherheitsbericht-27-12-bis-26-02-21.pdf?__blob=publicationFile&v=9#page=8 (archiviert: http://dpaq.de/nR2Dq)

Ärzteblatt zu Arzneimittelgesetz: https://www.aerzteblatt.de/archiv/134359/Arzneimittelgesetz-Zu-Risiken-der-Nebenwirkungen#:~:text=In%20der%20AMG-Novelle%20ist%20festgelegt (archiviert: https://archive.ph/zsHxq)

Bundesgesetzblatt mit Gesetzesänderung von 2012: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_id=%2527bgbl112s2192.pdf%2527%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl112s2192.pdf%27%5D__1618822015982

Arzneimittelgesetz (zu Nebenwirkungen Seite 27): https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/EN/service-en/law/arzneimittelgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (archiviert: http://dpaq.de/C9Kgl)

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