Wahlprogramm fehlinterpretiert: Berechnung zur Stromerzeugung falsch

12.03.2021, 17:29 (CET)

Deutschland hinkt seinem Ziel, klimaneutral zu wirtschaften, hinterher. Auch Baden-Württemberg müsse seinen Beitrag leisten, das zu ändern, heißt es im aktuellen Landeswahlprogramm der Grünen. Die Partei will den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in den kommenden Jahren massiv steigern und dabei vor allem neue Windkraft- und Fotovoltaik-Anlagen aufbauen - etwa im Staatswald, auf Ackerflächen oder Baggerseen. Dieser Vorschlag stößt auf Gegenwehr örtlicher Anti-Windkraft-Initiativen. Über Facebook verbreitet eine dieser Gruppen: Die in Deutschland zu installierende Leistung von 562 Gigawatt erneuerbarer Energie entspreche dem Fünffachen der aktuell benötigten Leistung. Das sei erforderlich, da etwa Solar- und Windkraftanlagen so «ineffektiv» seien. Im Ausbau sehen die Kritiker darum «eine gigantische Ressourcenverschwendung und Zerstörung unserer Natur und Lebensräume» (hier archiviert).

BEWERTUNG: Die Behauptungen sind verkürzt oder irreführend widergegeben. 562 Gigawatt sind nur etwa das Zweieinhalbfache der aktuell benötigten Leistung. Der Zuwachs resultiert unter anderem aus der zunehmenden Elektromobilität.

FAKTEN: Die erneuerbaren Energien seien, so heißt es im Wahlprogramm, «ein Schlüssel zum Schutz unseres Klimas». Um Klimaneutralität bei der Energieerzeugung zu erreichen, müssten darum Wind-, Wasser- oder Fotovoltaik-Anlagen mit einer Gesamtleistung von 562 Gigawatt installiert werden. Bei diesem Wert orientieren sich die Grünen an Daten der «Agora-Studie», erstellt unter anderem vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Anders als im Posting behauptet, entspricht dieser Wert jedoch nicht dem Fünffachen, sondern etwa dem Zweieinhalbfachen der aktuell installierten Energie.

Dass sich die zu installierende Energiemenge dennoch im Vergleich zu heute verdoppeln müsse, habe nicht - wie bei Facebook vorgetragen - mit der Ineffektivität «Erneuerbarer» zu tun, erklärt der grüne Energieexperte Michael Bloss gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Es erkläre sich damit, dass künftig auch Verkehrsmittel und Heizungssystem - bislang mit fossilen Energieträgern wie Diesel oder Öl befeuert - von grünem Strom betrieben werden sollen, so Bloss.

Die Grünen in Baden-Württemberg schlagen darum vor, bis 2030 in ihrem Bundesland 1000 neue Windräder zu errichten. Als Standorte empfehlen sie unter anderem Staatswälder - ein heikler Vorschlag. Andere Landesparlamente wie das thüringische schließen Waldflächen für den Ausbau der Windenergie kategorisch aus. Tatsächlich sind Wälder bedeutsame Horte der Artenvielfalt - und in der Bevölkerung extrem beliebt.

Das «Kompetenzzentrum Naturschutz und Energiewende» (KNE) aber hält ein kategorisches Nein für einen Irrweg. In einer aktuellen Stellungnahme heißt es, Sorgen um die Biodiversität des Waldes und dessen wichtige Ökosystemleistungen seien berechtigt. Doch Wald sei nicht gleich Wald. «Ein pauschaler Ausschluss des Waldes als Standort für die Windenergienutzung beraubt uns wichtiger Möglichkeiten, dringend benötigte Flächen für den Ausbau der erneuerbaren Energien naturverträglich zu erschließen.» Das KNE plädiert dafür, Einzelfallprüfungen vorzunehmen. Heißt konkret: Bereits intensiv forstwirtschaftlich genutzte Flächen sollten als potenzielle Standorte geprüft werden, denn das natürliche Ökosystem sei hier ohnehin bereits beeinträchtigt. Der pauschale Vorwurf, der Aufbau von Windenergieanlagen im Wald zerstöre Lebensräume, greift darum zu kurz.

Ebenso der Hinweis, dass mit dem Ausbau von Solarparks hektarweise Natur beeinträchtigt, ja versiegelt würde. Tatsächlich plädieren die Grünen für eine Ausweitung von Fotovoltaik-Flächen um 385 000 Hektar, ein Gebiet größer als das Saarland. Die Zahl beruht auf einer «Potentialanalyse» der baden-württembergischen Landesregierung, mittels derer Flächen ausgemacht wurden, die für die Installation von Fotovoltaik infrage kommen: etwa Streifen entlang von Autobahnen und Bundesstraßen, womöglich auch Lärmschutzwände. Wertvolle Biotope wie Naturschutzgebiete werden explizit als Standorte ausgeschlossen.

Eine jüngere Untersuchung zeigt zudem, dass die Errichtung von Solarparks der Biodiversität durchaus zuträglich sein kann. Weil die Flächen dauerhaft ungestört sind, nur gepflegt und nicht intensiv genutzt werden, siedelt sich dort eine Vielzahl von Insekten und Vögeln an.

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Links:

Beitrag auf Facebook: https://www.facebook.com/menschnaturbw.de/photos/a.285450274895641/3741754945931806/ (archiviert: https://archive.is/1BwBo)

Wahlprogramm der Grünen, Ausführungen zur Energie, S. 28: https://www.gruene-bw.de/wp-content/uploads/2021/01/GrueneBW-Landtagswahlprogramm-2021-Wachsen-wir-ueber-uns-hinaus.pdf (archiviert: http://dpaq.de/1Xo6A)

Agora-Studie: https://static.agora-energiewende.de/fileadmin2/Projekte/2020/2020_10_KNDE/A-EW_195_KNDE_WEB_V111.pdf (archiviert: http://dpaq.de/rMf6Z)

Installierte Energie 2019: https://www.bdew.de/service/daten-und-grafiken/installierte-leistung-und-erzeugung/ (archiviert: http://dpaq.de/WTTNN)

Stellungnahme des KNE: https://www.naturschutz-energiewende.de/unkategorisiert/das-kne-empfiehlt-die-nutzung-von-windenergie-im-wald-nicht-generell-ausschliessen/ (archiviert: http://dpaq.de/Og1EX)

Potentialanalyse zu Fotovoltaik in Baden-Württemberg: https://www.energieatlas-bw.de/sonne/freiflachen/potenzialanalyse (archiviert: http://dpaq.de/GReck)

Studie zu Biodiversität in Solarparks: https://www.bne-online.de/fileadmin/bne/Dokumente/20191119_bne_Studie_Solarparks_Gewinne_fuer_die_Biodiversitaet_online.pdf (archiviert: http://dpaq.de/WSG98)

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