Totschlag in Lüneburg: Medien schreiben über Herkunft des Verdächtigen

02.03.2021, 17:18 (CET)

In einer psychiatrischen Klinik in Lüneburg sind bei einer Attacke Mitte Februar zwei Patienten getötet und drei weitere Menschen verletzt worden. Ein 21-jähriger Tatverdächtiger sitzt wegen des Vorwurfs des zweifachen Totschlags in Untersuchungshaft. Unter dem Titel «Doppelmord in Lüneburg?» wirft nun Manfred Schwarz in einem Artikel auf «reitschuster.de» Medien wie unter anderem dem NDR vor, die persönlichen Hintergründe des Täters nicht veröffentlicht zu haben (hier archiviert). Es soll etwa verschwiegen worden sein, dass der Tatverdächtige ein Geflüchteter aus Syrien und in Deutschland angeblich «bereits mehrmals schwer straffällig» geworden sei.

BEWERTUNG: Falsch. Medien haben den Umständen entsprechend ausführlich die Hintergründe des Tatverdächtigen ausgeleuchtet - besonders der NDR. Zudem enthält Schwarz' Artikel mehrere Falschbehauptungen etwa über die Art der Taten in Lüneburg oder über die kriminelle Vergangenheit des Verdächtigen.

FAKTEN: Am 19. Februar 2021 wurde im Fall der getöteten Psychiatrie-Patienten gegen den 21-jährigen Verdächtigen Haftbefehl wegen zweifachen Totschlags erlassen. Der Mann wird nach Angaben der Staatsanwaltschaft psychiatrisch begutachtet.

Im Artikel bei «reitschuster.de» wird nun mehreren Medien vorgeworfen, persönliche Hintergründe zum Verdächtigen zu verschweigen. Genannt werden unter anderen der öffentlich-rechtliche Sender NDR sowie die Zeitungen «Hamburger Abendblatt», «Süddeutsche Zeitung» und «Zeit». Demnach sollen sie und weitere Medien nicht veröffentlicht haben, dass der 21-Jährige ein Syrer sei - und dass der Mann angeblich «hierzulande bereits mehrmals schwer straffällig geworden» sein soll.

Doch das entspricht nicht der Tatsachen. «Süddeutsche Zeitung», «Hamburger Abendblatt» und «Zeit» verbreiteten zum Beispiel am frühen Nachmittag des 22. Februar, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen «jungen Mann aus Syrien» handelt, der erst Stunden vor der Tat «freiwillig zur Beobachtung in die Klinik gekommen» war. Diese Informationen übermittelten zudem auch RTL, «Welt» und «t-online». Die «Bild» schrieb bereits am 19. Februar, dass es der Staatsanwaltschaft zufolge «gegen den Syrer bereits Verfahren wegen Körperverletzung und Bedrohung» gegeben habe.

Vor allem der Vorwurf gegen den NDR ist haltlos. Der Sender aus der ARD-Familie berichtete seit dem Ereignis in seinem Berichtsgebiet immer wieder über die Tat und den jeweiligen Stand der Ermittlungen.

In einem Video-Beitrag, der spätestens am 22. Februar um 19.35 Uhr online ging, heißt es etwa: «Wie die Staatsanwaltschaft heute (...) bestätigte, handelte es sich beim Beschuldigten um einen Syrer.» Staatsanwalt Jan Christoph Hillmer sagt in diesem Filmbeitrag: «Ob bei der Tat eine psychische Erkrankung oder zum Beispiel eine Traumatisierung oder Betäubungsmittelfragen eine Rolle gespielt haben, das wird durch einen psychiatrischen Gutachter zu klären sein. Der ist auch schon beauftragt worden.»

Hätte Autor Schwarz überhaupt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Textes wissen können, dass NDR und Co. schon darüber berichtet hatten? Ja, man kann davon ausgehen. Denn wie aus dem Quelltext der Internetseite zu entnehmen ist, erschien sein Beitrag am 22. Februar um 21.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit auf «reitschuster.de». Auf eine Manipulation an dieser Stelle deutet nichts hin. Mehrere der beschuldigten Medien hatten zu diesem Zeitpunkt bereits - wie dargelegt - die Herkunft des Verdächtigen angegeben.

Andererseits verbreitet Schwarz selbst falsche Behauptungen über die Tat und den Verdächtigen:

1. These vom angeblichen «Doppelmord»

Schwarz schreibt in seinem Text dreimal fälschlicherweise von einem Doppelmord. Die Staatsanwaltschaft ermittelt jedoch wegen zweifachen Totschlags, nicht wegen Mordes. Für diesen Tatbestand hat ein Richter den Syrer auch in Untersuchungshaft bringen lassen. Das bestätigte Staatsanwalt Hillmer am 2. März 2021 erneut der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Bis zu einem Urteil gilt jede und jeder Verdächtige in Deutschland als unschuldig.

2. These von der angeblich durchgeschnittenen Kehle

Schwarz behauptet, die von Polizei und Staatsanwaltschaft verwendete Tatbeschreibung «Gewalteinwirkung auf den Hals» sei lediglich eine «beschönigende Umschreibung dafür, dass einem Menschen die Kehle durchgeschnitten wurde». Doch das stimmt nicht. «Das ist eine falsche Auskunft», sagte Staatsanwalt Hillmer der dpa. Bereits am 20. Februar hatte er dem NDR mitgeteilt, dass «die beiden männlichen Opfer gewürgt, stranguliert oder erstickt» wurden.

3. These von angeblich brutaler krimineller Vergangenheit

Die Behauptung, der Verdächtige sei «offenbar schon mehrfach als brutaler Schläger» bekannt geworden, entbehrt jeglicher Grundlage. Auf dpa-Anfrage erklärt Hillmer: Vor der Tat in der psychiatrischen Klinik war der Beschuldigte wegen einer Bedrohung und wegen einer Körperverletzung am Rande der Bagatellgrenzen auffällig geworden. Darüber hatte auch der NDR berichtet.

Zur Einordnung von Bagatelldelikten: In einem vollkommen anderen Fall hatte das Amtsgericht Braunschweig zum Beispiel im Herbst 2020 einen Mann zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 250 Euro verurteilt, weil er dem Kläger während der Corona-Pandemie bewusst ins Gesicht gehustet hatte. «Die Bagatellgrenze wurde hier deutlich überschritten», so das Gericht.

Im Lüneburger Fall wurde mittlerweile ein psychiatrischer Gutachter eingeschaltet. Bis zum 2. März hatte sich der mutmaßliche Angreifer noch nicht zu den Tatvorwürfen geäußert.

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Hinweis: Zeitangaben in Quelltexten einer Internetseite haben als Referenz die Zeitzone «Greenwich Mean Time» (GMT). Diese hängt um eine Stunde der mitteleuropäischen Winterzeit hinterher. In der Regel werden die Angaben vom Content Management System der jeweiligen Redaktionen automatisch eingetragen und lassen sich von Redakteuren nicht verändern.

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Links:

«Süddeutsche»-Artikel vom 22.2.2021: https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-lueneburg-nach-toetung-zweier-patienten-in-klinik-gutachter-beauftragt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210222-99-543687 (archiviert: https://archive.vn/5vrfC)

«Hamburger Abendblatt»-Artikel vom 22.2.2021 (Abo): https://www.abendblatt.de/region/niedersachsen/article231626755/Nach-Toetung-zweier-Patienten-in-Klinik-Gutachter-beauftragt.html

«Zeit»-Artikel vom 22.2.2021: https://www.zeit.de/news/2021-02/22/nach-toetung-zweier-patienten-in-klinik-gutachter-beauftragt (archiviert: https://archive.vn/eyTOp)

«Welt»-Artikel vom 22.2.2021: https://www.welt.de/regionales/niedersachsen/article226846611/Nach-Toetung-zweier-Patienten-in-Klinik-Gutachter-beauftragt.html (archiviert: https://archive.vn/QzGys)

RTL-Artikel vom 22.2.2021: https://www.rtl.de/cms/nach-toetung-zweier-patienten-in-klinik-gutachter-beauftragt-4709153.html (archiviert: https://archive.vn/WwVyg)

«t-online»-Artikel vom 22.2.2021: https://www.t-online.de/region/id_89522338/nach-toetung-zweier-patienten-in-klinik-gutachter-beauftragt.html (archiviert: https://archive.vn/dlZwZ)

«Bild»-Artikel vom 19.2.2021 (Abo): https://www.bild.de/bild-plus/regional/hamburg/hamburg-aktuell/lueneburg-hier-kommt-der-psycho-killer-vor-den-haftrichter-75470638.bild.html

NDR-Bericht vom 22.2.2021 (mit Video): https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Zweifacher-Totschlag-in-Psychiatrie-Gutachter-beauftragt,psychiatrie182.html (archivierter Text: https://archive.vn/jJ5QV, archiviertes Video: http://dpaq.de/h2zc4)

NDR-Bericht vom 20.2.2021 (mit Video): https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/21-Jaehriger-schweigt-nach-toedlicher-Attacke-in-Psychiatrie,psychiatrie178.html (archivierter Text: https://archive.vn/PpB7w, archiviertes Video: http://dpaq.de/uKhQO)

Polizei Lüneburg über Tat vom 19.2.2021: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/59488/4842731 (Pressemitteilung von 10.06 Uhr), https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/59488/4842753 (Update von 10.16 Uhr)

Amtsgericht Braunschweig über Bagatellgrenze beim Anhusten vom 11.12.2020 (AZ: 112C 1262/20): https://www.amtsgericht-braunschweig.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/aktuelle-termine-beim-amtsgericht-braunschweig-37-woche-2019-195448.html (archiviert: https://archive.vn/0l7Du)

Artikel mit Falschbehauptungen über Medien: https://reitschuster.de/post/doppelmord-in-lueneburg-medien-verschweigen-hintergruende/ (archiviert: https://archive.vn/g9g39)

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