Keine Entmachtung: Neues Infektionsschutzgesetz schreibt präzisere Begründung von Grundrechtseingriffen vor

29.12.2020, 16:41 (CET)

In sozialen Medien kursieren weiterhin falsche Informationen über die im November beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes. «Die Bundesregierung hat das historische Corona-Ermächtigungsgesetz durch den Bundestag gepeitscht und somit selbigen entmachtet», heißt es etwa in einem Instagram-Beitrag (hier archiviert). «Freiheitsrechte einschränken mit dem Verweis auf Corona geht für Merkel und Co in Zukunft noch viel leichter.»

BEWERTUNG: Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes hat den Bundestag nicht entmachtet. Beschlossen wurden stattdessen präzisere Möglichkeiten zur Begründung und damit Kontrolle von Corona-Maßnahmen. Oppositionsparteien nahmen ihr Recht auf Kritik an der Gesetzesänderung wahr.

FAKTEN: Am 18. November 2020 haben Bundestag und Bundesrat erneut das Infektionsschutzgesetz geändert. Ein Grund dafür war Kritik daran, dass Einschränkungen der Grundrechte nicht gut genug begründet gewesen waren. Zuvor hatten sich die Bundesländer nämlich bei der Umsetzung der Corona-Maßnahmen auf generelle Klauseln des Bundesinfektionsschutzgesetzes berufen.

Künftig sollen präzisere Vorgaben dafür in einem neuen Paragrafen 28a eingefügt werden. Der listet bekannte mögliche Maßnahmen - von Maskenpflicht über Kontaktbeschränkungen bis zu Ladenschließungen - einzeln auf und schafft dafür eine Gesetzesbasis.

Genauer definiert wurde zudem eine zentrale Voraussetzung für bestimmte Krisenmaßnahmen: Dass der Bundestag - wie im Frühjahr geschehen - eine «epidemische Lage von nationaler Tragweite» feststellt. Diese liege bei «einer ernsthaften Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik» vor. Und die soll gegeben sein, wenn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Notlage ausruft oder «eine dynamische Ausbreitung» einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Bundesländer droht oder stattfindet.

Außerdem beschloss der Bundestag, dass Verordnungen unter anderem eine Pflicht zur öffentlichen Begründung erhalten sowie eine Pflicht, sie grundsätzlich auf vier Wochen zu befristen - diese Dauer kann aber verlängert werden. Diese Änderungen sollen für mehr Rechtssicherheit sorgen und bessere demokratische Kontrolle ermöglich. Die Bundesregierung muss den Bundestag nun zudem regelmäßig über den Stand der Epidemie informieren.

Trotzdem äußerten Oppositionsparteien auch scharfe Kritik an den Änderungen. «Ja, wir erleben eine massive Beschränkung von Grundrechten», sagte der Vize-Fraktionschef der FDP, Stephan Thomae. «Aber wir erleben keinen inneren Notstand. Es ist keine Diktatur. Es ist nicht so, dass die Demokratie abgeschafft wäre. Die Verfassung gilt, die Gewaltenteilung funktioniert, die Justiz arbeitet.» Die AfD forderte eine «Ständige Epidemiekommission», die Kriterien zum Feststellen einer nationalen epidemischen Lage erarbeiten soll. Dieter Janecek (Grüne) bemängelte, die Regelungen blieben «so rechtlich unbestimmt und ungenau wie die bisherige Rechtslage». Die Linke kritisierte Inhalt und den knappen zeitlichen Rahmen des ganzen Verfahrens.

Von einigen Gegnern der Änderung wurde das neue Infektionsschutzgesetz als «Ermächtigungsgesetz» bezeichnet. Damit verbindet man das Gesetz, mit dem sich das deutsche Parlament im März 1933 als demokratische Institution selbst abgeschafft hat. Die NS-Regierung konnte daraufhin ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat Gesetze zu erlassen. Die Gewaltenteilung, Grundlage jedes Rechtsstaats, war komplett aufgehoben. Von einem solchen dauerhaften Außerkraftsetzen demokratischer Prinzipien kann heute keine Rede sein.

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Links:

Instagram-Beitrag (21. November 2020): https://www.instagram.com/p/CH3EiqvA-mc/ (archiviert: https://archive.vn/ytGyN)

Informationen der Bundesregierung über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bevoelkerungsschutzgesetz-1805062 (archiviert: https://archive.vn/Ehwaq)

dpa-Bericht «Bundestag und Bundesrat beschließen Änderungen am Infektionsschutzgesetz» (18. November 2020): https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.coronakrise-bundestag-beschliesst-aenderungen-am-infektionsschutzgesetz.87ab21c8-c35f-4ac6-9ed0-a0fe39214c28.html (archiviert: https://archive.vn/xYmHV)

«FAZ» über das neue Infektionsschutzgesetz: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-massnahmen-das-steht-im-neuen-infektionsschutzgesetz-17058280.html (archiviert: https://archive.vn/5EDN0)

dpa-Bericht «Was bringen die parlamentarischen Corona-«Leitplanken»?» (17. November 2020): https://www.krankenkassen.de/dpa/356030.html (archiviert: https://archive.vn/Hai4l)

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