ILO erhebt keine Arbeitslosendaten - Zahlen sind Prognosen

4.12.2020, 12:43 (CET)

Die Corona-Krise trifft die Wirtschaft hart - das wirkt sich auch auf den Arbeitsmarkt aus. Durch Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sollen weltweit 300 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben, heißt es in einem Tweet, der auch auf Facebook verbreitet wird (hier archiviert). Als Quelle wird die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) genannt.

BEWERTUNG: Die ILO hat keine absoluten Zahlen zu weggefallenen Arbeitsplätzen oder arbeitslos gewordenen Menschen veröffentlicht, sondern lediglich eine Schätzung zu der in der Krise weggefallenen Arbeitszeit. Ende April 2020 befürchtete die Organisation für das zweite Quartal des Jahres einen Wegfall von Arbeitsstunden, der einem Verlust von rund 305 Millionen Vollzeitstellen entspräche. Zahlen zum tatsächlichen Verlust von Arbeitsplätzen in der Corona-Krise hat die ILO nicht erhoben.

FAKTEN: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die sich unter anderem mit dem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündeten Recht auf Arbeit befasst. Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie warnt die ILO immer wieder vor den Folgen der wirtschaftlichen Krise für die weltweiten Arbeitsmärkte.

Dazu hat die Organisation am 29. April eine Pressemitteilung veröffentlicht. Darin stellt sich eine Prognose auf, wonach im damals laufenden zweiten Quartal 2020 die weltweit geleistete Arbeitszeit stark zurückgehen werde - um 10,5 Prozent gegenüber dem Niveau vom vierten Quartal 2019, dem letzten Quartal vor der Krise.

Diesen Rückgang versuchte die ILO in eine absolute Anzahl von Jobs umzurechnen und kam auf einen Wert von 305 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. Bei ihren Berechnungen geht die ILO von einer in vielen Ländern noch üblichen 48-Stunden-Woche aus.

In den Medien ist dieses Gedankenspiel aufgegriffen worden - etwa mit einem Bericht mit der Überschrift «ILO befürchtet Wegfall von mehr als 300 Millionen Jobs».

Anders als es in dem betreffenden Tweet heißt, sagt die ILO-Schätzung jedoch nichts über die Zahl der tatsächlich verloren gegangenen Vollzeitjobs aus. Zum einen stellt sie eine Prognose und keine nachträgliche Erhebung dar. Zum anderen müssten bei einer Umrechnung von Arbeitszeit in Arbeitsplätze weitere Faktoren wie der Anteil von Teilzeitjobs und Maßnahmen wie die in Deutschland verbreitete Kurzarbeit berücksichtigt werden. Aus dem so ermittelten Äquivalenzwert der weggefallenen Jobs lässt sich - etwa aufgrund von Mehrfachbeschäftigung - wiederum nicht auf die im Tweet angegebene Zahl von Menschen schließen, die ihre Arbeit verloren haben.

Die ILO weist selbst in der Erläuterung ihrer Methodik darauf hin, dass die Schätzungen angesichts der außergewöhnlichen Situation und der Knappheit an relevanten Daten einer erheblichen Unsicherheit unterliegen. Der Schock für den Arbeitsmarkt durch die Corona-Pandemie sei schwer abzuschätzen anhand eines Vergleichs mit vergangenen Daten.

Richtig ist lediglich, dass die ILO auch weiter vor den Folgen der Corona-Krise warnt. Im September gab die Organisation die geschätzte weggefallene Arbeitszeit im zweiten Quartal sogar mit einer Entsprechung von rund 500 Millionen Vollzeitstellen an.

Weltweite Zahlen über in der Krise tatsächlich verloren gegangene Arbeitsplätze oder Menschen, die arbeitslos geworden sind, gibt es nicht. In einzelnen Ländern lassen aber andere Zahlen wie etwa die Arbeitslosenquote Rückschlüsse auf die Auswirkungen der Krise zu. In den USA schoss die Quote von 3,5 Prozent im Februar auf 14,7 Prozent im April in die Höhe. Bis Oktober fiel sie offiziellen Angaben zufolge wieder, lag mit 6,9 Prozent aber noch immer über dem Vorkrisenniveau. In Deutschland lag die Quote nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit noch im März bei 5,1 Prozent und stieg bis in den August auf 6,4 Prozent an. Seitdem sank sie wieder und stand im November bei 5,9 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutete dies rund 2,7 Millionen Arbeitslose im November, im Februar hatte der Wert bei etwas über 2,3 Millionen gelegen.

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Links:

ILO-Pressemitteilung vom 29. April 2020: https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_743038/lang--de/index.htm (archiviert: http://dpaq.de/EUfsm)

ILO-Monitor zu Covid-19 und der Arbeitswelt vom 29. April 2020:
https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/briefingnote/wcms_743146.pdf (archiviert: http://dpaq.de/XQ9If)

ILO-Pressemitteilung vom 23. September 2020: https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_755046/lang--de/index.htm (archiviert: http://dpaq.de/Z0OEN)

ILO-Monitor zu Covid-19 und der Arbeitswelt vom 23. September 2020:
https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/briefingnote/wcms_755910.pdf (archiviert: http://dpaq.de/XJNN2)

Bericht des Evangelischen Pressedienstes: https://www.evangelisch.de/inhalte/169507/29-04-2020/corona-krise-ilo-befuerchtet-wegfall-von-mehr-als-300-millionen-jobs (archiviert: http://dpaq.de/n4Cdu)

Verlauf der US-Arbeitslosenquote: https://fred.stlouisfed.org/series/UNRATE (archiviert: https://archive.vn/w9fvZ)

Arbeitsmarktzahlen für Deutschland: https://www.arbeitsagentur.de/news/arbeitsmarkt-2020 (archiviert: http://dpaq.de/IuTcP)

Beitrag auf Facebook: https://www.facebook.com/Systemsklavenerhebteuch/posts/179153870540050 (archiviert: https://archive.vn/pV1NI)

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