Alte Aussagen eines Rechtsmediziners zu Corona-Toten werden unangemessen verallgemeinert
26.11.2020, 15:12 (CET)
Im Frühjahr machte ein Hamburger Rechtsmediziner Angaben über die von ihm obduzierten Corona-Toten. Seitdem werden diese Aussagen immer wieder ohne Kontext verbreitet - so auch in diesem Sharepic bei Facebook (hier archiviert).
BEWERTUNG: Die Aussagen werden unangemessen verallgemeinert. Zudem sind sie veraltet. Der Rechtsmediziner hat sie inzwischen eingeordnet und sich explizit von darauf basierenden Verschwörungserzählungen abgegrenzt.
FAKTEN: Klaus Püschel, bis vor einigen Wochen Chef der Hamburger Rechtsmedizin, begann bereits im Frühjahr 2020 damit, Covid-19-Tote zu obduzieren. Anfangs gegen den ausdrücklichen Rat des Robert Koch-Instituts, das Sektionen als zu gefährlich ansah. Püschel hält damit bis heute einen makabren Rekord: Wohl niemand anderes hat so viele Pandemie-Tote untersucht wie er: mehr als 200.
Püschels frühe Erkenntnisse darüber, dass das Virus nicht nur die Lunge, sondern auch andere Organe nachhaltig schädigt, fanden weithin Beachtung. Ebenso seine anfangs konträren Thesen zur Gefahr, die vom Coronavirus ausgehe. So erklärte er Anfang April in einem Interview mit der «Hamburger Morgenpost», die Angst vor dem Virus sei übertrieben. In Hamburg sei bis dahin kein einziger nicht vorerkrankter Mensch an dem Virus gestorben. Bei einer 100-Jährigen etwa sei Corona nur «der allerletzte» Tropfen gewesen.
Kurz darauf, am 21. April 2020, wiederholte Püschel seine Aussage in einem Sat.1-Interview. Ab Minute 1:58 erklärt der Rechtsmediziner: «Alle Toten - wir haben inzwischen über hundert in dieser Region obduziert - hatten schwere vorbestehende innere Erkrankungen.»
Püschel bezieht seine Aussagen auf die Region Hamburg, spricht nicht von Deutschland oder gar der Welt. Auch stammt die Wendung «keiner» sei direkt an Covid-19 gestorben, nicht aus diesem Interview; seine Aussagen tendieren in diese Richtung, wurden allerdings zugespitzt.
Püschels Statement wurde rasch von Corona-Skeptikern als Beleg für ihre Thesen herangezogen. Der Rechtsmediziner gab schon im Mai der Wochenzeitung «Die Zeit» ein ausführliches Interview, um Aussagen einzuordnen, teils auch zurückzunehmen. So erklärt er mit Nachdruck, er habe das Virus nicht herunterspielen, sondern «dem Normalbürger die Angst» nehmen wollen. Und er betont – bei aller Kritik an einzelnen Maßnahmen: «Der Umgang mit der Pandemie ist in Deutschland erkennbar gut gelungen.» Mit Verschwörungstheoretikern, die sich seine Aussagen zurechtbögen, «will ich nichts zu tun haben».
Im Juli wiederholte er seine Ansichten abermals in einem Interview mit dem SWR. Gleich zu Beginn erklärt er, seine anfänglichen Erkenntnisse hätten sich über die Monate erhärtet: An Covid-19 seien überwiegend Alte und Menschen mit vielen Vorerkrankungen wie Krebs gestorben. Junge seien nicht dermaßen gefährdet. Auch hier: keine Verallgemeinerungen.
Püschels Aussagen decken sich in weiten Teilen mit denen des Robert Koch-Instituts. So heißt es auf dessen Website: «Die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu.» Aber auch «ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen» könne es zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen.
Diese Erkenntnis speist sich unter anderem aus einer jüngeren US-Studie. Ihr Ergebnis: Leiden Jüngere unter Vorerkrankungen oder Übergewicht, haben sie das gleiche Risiko für einen schweren Verlauf wie ältere Menschen ohne andere Krankheiten.
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Links:
Püschel-Interview in der «Hamburger Morgenpost»: https://www.mopo.de/hamburg/rechtsmediziner--ohne-vorerkrankung-ist-in-hamburg-an-covid-19-noch-keiner-gestorben--36508928 (archiviert: https://archive.vn/Or0Xr)
Püschel-Interview bei Sat.1: https://www.youtube.com/watch?v=44tTKSkTt1w (archiviert: http://dpaq.de/KvLAO)
Frühe Studie über Covid-19-Tote, an der Püschel mitwirkte: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7271136/?fbclid=IwAR2gU0s5S1Pjf5XerfZJz9LtR8naoYKzKBErHLTxNhUJxIRpo5HvZLmUyqY (archiviert: https://archive.vn/a6LKO)
Püschel-Interview in «Die Zeit» (hinter Bezahlschranke): https://www.zeit.de/2020/23/klaus-pueschel-coronavirus-angst-infektionsschutz-rechtsmedizin (archiviert: https://archive.vn/NBnFE)
Püschel-Interview im SWR: https://www.youtube.com/watch?v=mPM1CZlvN10&feature=youtu.be (archiviert: http://dpaq.de/U4Lke)
Risikobewertung von Covid-19 durch das Robert Koch-Institut (wird regelmäßig aktualisiert): https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html
US-Studie zu Gefahren einer Sars-CoV-2-Infektion für junge Erwachsene: https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2770542 (archiviert: https://archive.vn/vduWO)
Beitrag:
https://www.facebook.com/marcel.degner.98/posts/3420743577994522 (archiviert: https://archive.vn/HXd2O)
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