Berechnungsmodell zur Herdenimmunität wurde nicht zurückgezogen
30.11.2020, 16:12 (CET)
Findet ein Virus keine Wirte für Übertragung und Verbreitung, weil bereits viele Menschen immun sind, spricht man von Herdenimmunität. Ein oft genannter Schwellenwert liegt bei zwei Dritteln der Bevölkerung. Einem Sharepic zufolge ist der Wert von 60 bis 70 Prozent jedoch nicht mehr aktuell (hier archiviert): «Diese Arbeit bzw. das Berechnungsmodell, worauf diese % beruhen, wurde schon längst zurückgezogen», wird in dem Bild behauptet. «Aktuell kommen die Wissenschaftler auf eine Range von 20-45%.» Noch niedriger dürfe der Wert aufgrund von Hintergrund- und Kreuzimmunität liegen, heißt es. Ist das wirklich so?
BEWERTUNG: Es ist unklar, wann während der Corona-Pandemie die Herdenimmunität erreicht sein wird. Im Sharepic fehlt Kontext: Der Schwellenwert bei 60 bis 70 Prozent basiert auf einer feststehenden Rechnung zur Herdenimmunität. Einen Wert von 20 Prozent halten viele Wissenschaftler für zu niedrig, bei Sars-CoV-2 ist jedoch noch vieles unklar.
FAKTEN: Der Schwellenwert für eine Herdenimmunität basiert auf einer einfachen Formel und hängt mit der Basisreproduktionszahl zusammen. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jeder Infizierte durchschnittlich drei weitere Person ansteckt, müssen zwei Drittel der Bevölkerung immun sein, damit ein Virus sich nicht mehr exponentiell verbreiten kann. Eine Pandemie endet dann nicht sofort, aber jeder neue Infizierte steckt durchschnittlich nur noch weniger als einen anderen Menschen an.
Es ist auch ein Wert, auf den sich die Regierung und Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder beziehen. «Es stimmt nicht, dass ihn jemand «zurückgezogen» hat», sagte André Karch vom Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Der Wert könne niedriger oder höher liegen, abhängig etwa von den tatsächlichen Kontaktstrukturen in einer Bevölkerung.
Ändert sich die Zahl, wie viele Menschen je nach Virus durchschnittlich von einem angesteckt werden, ändert sich auch der Schwellenwert für die Herdenimmunität. Berücksichtigt werden muss auch die Frage, wie vielen Menschen wir in unseren Netzwerken überhaupt begegnen: Ob wir uns also zum Beispiel Menschen aussetzen, die besonders viele Kontakte haben und darum auch besonders viele Menschen anstecken, sogenannten Superspreadern, oder ob wir zu einer Gruppe gehören, die wenig Kontakt mit anderen hat.
Eine Gruppe von Wissenschaftlern ging für eine Studie im Mai 2020 von einer heterogenen Struktur aus und kam dabei zum Ergebnis, der Schwellenwert für Corona liege bei 20 Prozent. «Dieser Wert ist einer aus einem ganzen Spektrum von möglichen Werten, die in dieser theoretischen Untersuchung mit extremen Annahmen berichtet werden, und hat dementsprechend erstmal wenig mit der Praxis zu tun», so André Karch. Andere Wissenschaftlersehen das ähnlich.
Rechnet man neben sozialen Aktivitäten auch Altersstrukturen ein und geht von einer Basisreproduktionszahl von 2,5 aus, kommt man auf einen Wert von etwa 43 Prozent. «Es ist nicht klar, wo genau der Wert liegt. Auch aufgrund der Daten aus besonders betroffenen Gebieten ist aber klar, dass er höher als 20 Prozent liegen muss», fasst Karch zusammen.
Wie dynamisch der Schwellenwert anzulegen ist, zeigt auch der Zusammenhang mit der Antikörper-Bildung: Es ist noch unklar, wie lange der natürlich entstandene Schutz durch den Körper gegen Corona anhält. Wäre er kurz - und damit nach einer Zeit eine Zweitinfektion möglich - wäre auch der Schwellenwert zur Herdenimmunität wieder anders anzusetzen.
Dass im Zusammenhang mit Hintergrund- und Kreuzimmunität der Schwellenwert zur Herdenimmunität noch niedriger als bei 20 Prozent liege, hält Karch für falsch. «Denn dann wäre die bestehende Kreuzimmunität auch schon bei der Ableitung der Basisreproduktionszahl zu berücksichtigen, die dann entsprechend höher wäre», sagte Karch der dpa. «Es gibt bisher keine Evidenz, dass es in Bezug auf SARS-CoV-2 in unserer Bevölkerung relevante Kreuzimmunität gibt, die vor Infektion schützt.»
---
Links:
Sharepic mit Behauptung: https://www.instagram.com/p/CHX1SM3J2Ud/ (archiviert: https://archive.vn/5s2MC)
Bericht vom Deutschlandfunk zur Herdenimmunität: https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-wie-man-herdenimmunitaet-erreicht.676.de.html?dram:article_id=475006 (archiviert: https://archive.vn/RJYaa)
Studie der Gruppe um die Wissenschaftlerin Gomes, die einen Schwellenwert von 20 Prozent ergeben hat: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.27.20081893v3 (archiviert: https://archive.vn/dAxjh)
PDF der Studie: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.27.20081893v3.full.pdf (archiviert: http://dpaq.de/2Jrqw)
Studie von Tom Britton et al., die einen Schwellenwert bei etwa 43 Prozent ergeben hat: https://science.sciencemag.org/content/369/6505/846 (archiviert: http://dpaq.de/Wwcis)
Studie vom September 2020, die einen Schwellenwert bei mindestens 50 Prozent ansetzen: https://www.nature.com/articles/s41577-020-00451-5 (archiviert: http://dpaq.de/txFTD)
Artikel bei «Spektrum» über Herdenimmunität: https://www.spektrum.de/news/die-knifflige-sache-mit-der-herdenimmunitaet/1749744 (archiviert: http://dpaq.de/7Ac3z)
Artikel in «New York Times» über Herdenimmunität: https://www.nytimes.com/2020/08/17/health/coronavirus-herd-immunity.html (archiviert: http://dpaq.de/4LWuZ)
Artikel vom Oktober über aktuelle Erkenntnisse zur Herdenimmunität: https://www.nature.com/articles/d41586-020-02948-4 (archiviert: http://dpaq.de/3fCGG)
Artikel über Angela Merkels Einschätzung zur Herdenimmunität: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/merkel-rechnet-noch-lange-mit-corona-einschraenkungen-17042582.html (archiviert: http://dpaq.de/xC86c)
Twitter-Thread einer Wissenschaftlerin, die Gomes' Studie kritisiert: https://twitter.com/nataliexdean/status/1259248282448146433 (archiviert: https://archive.vn/zuqxQ)
Twitter-Thread eines Wissenschaftler, der sich mit Gomes' und Brittons Studien auseinandersetzt: https://twitter.com/mlipsitch/status/1258828138399891458 (archiviert: https://archive.vn/sCbBZ)
Transkript eines Briefings des «Science Media Center», in dem Karch das Konzept der Herdenimmunität erklärt (siehe Seite 9): https://www.sciencemediacenter.de/fileadmin/user_upload/Press_Briefing_Zubehoer/Transkript_vPB_Immunita__t_Corona_01072020.pdf (archiviert: http://dpaq.de/muykA)
Artikel über Diskussion zur Herdenimmunität: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-sind-wir-der-herdenimmunitaet-schon-naeher-a-c3e9d501-7c97-4436-9342-ae38360b9b2d (archiviert: https://archive.vn/LhN6F)
FAQ von «Quarks» zur Herdenimmunität:
https://www.quarks.de/gesellschaft/wissenschaft/warum-natuerliche-herdenimmunitaet-eine-illusion-ist/ (archiviert: http://dpaq.de/CuCZk)
Erklärstück über Herdenimmunität: https://www.spektrum.de/kolumne/wann-der-herdenschutz-wirkt/1425412 (archiviert: http://dpaq.de/gKsmq)
FAQ von «Quarks» zur natürlichen Antikörper-Bildung bei einer Sars-Cov-2-Infektion: https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/corona-sind-wir-nach-einer-infektion-immun/ (archiviert: http://dpaq.de/5aZDo)
Artikel über Angela Merkels Aussage zum Schwellenwert von 60 bis 70 Prozent: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/merkel-rechnet-noch-lange-mit-corona-einschraenkungen-17042582.html (archiviert: https://archive.vn/spYZx)
---
Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com