WHO hat Gefahr von Corona nicht mit Grippe gleichgesetzt
18.11.2020, 17:32 (CET)
Gegner der Corona-Maßnahmen argumentieren häufig, dass Covid-19 angeblich nur so gefährlich sei wie eine Grippe. Das soll nun sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekanntgegeben haben. Sie habe «endlich bestätigt, was wir (und viele Experten und Studien) seit Monaten sagen - das Coronavirus ist nicht tödlicher oder gefährlicher als die saisonale Grippe», heißt es in einem Facebook-Beitrag (hier archiviert). Demnach ergebe sich im Verhältnis von Todesopfern und Infizierten weltweit eine Sterblichkeitsrate ähnlich wie bei der saisonalen Grippe.
BEWERTUNG: Die WHO hat nicht bestätigt, dass das Coronavirus nicht gefährlicher sei als die Grippe. Sie hat eine Schätzung veröffentlicht, wie viele Menschen sich weltweit mit Corona angesteckt haben könnten. Kritiker der Corona-Maßnahmen haben damit eine irreführende Rechnung zur Todesrate aufgestellt. Seriöse Studien weisen auf eine deutlich höhere Sterblichkeit bei Covid-19 hin.
FAKTEN: Die Behauptungen beziehen sich auf eine Aussage von Michael Ryan, dem Geschäftsführer des «Health Emergencies Programme» der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ryan sagte Anfang Oktober, dass nach den «besten Schätzungen» der WHO bereits zehn Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde mit Sars-CoV-2 infiziert (gewesen) sein könnten (WHO-Webcast, erste Session, ab etwa 1:01:20). Auf Basis dieser Schätzung erstellten Kritiker der Corona-Maßnahmen eine Rechnung zur Sterberate - nicht die WHO selbst.
Zunächst wirkt es, als folgten sie dabei einer nachvollziehbaren Logik: «Die Weltbevölkerung beträgt etwa 7,8 Milliarden Menschen, wenn 10% infiziert sind, das sind 780 Millionen Fälle. Die weltweite Zahl der Todesopfer, die derzeit auf Sars-Cov-2-Infektionen zurückgeführt werden, beträgt 1.061.539.» Das sei eine Infektionssterblichkeitsrate von etwa 0,14 Prozent. «Genau im Einklang mit der saisonalen Grippe und den Vorhersagen vieler Experten aus der ganzen Welt», heißt es in den entsprechenden Beiträgen.
Diese simple Rechnung ist aber irreführend bis falsch. Denn die beiden Variablen der Rechnung sind keine gesicherten Zahlen: Um zu schätzen, wie viele Menschen weltweit infiziert sein könnten, wertete die WHO nach eigenen Angaben internationale Studien aus. Dass es dabei starke Unterschiede gibt, etwa je nach Ort und Bevölkerungsgruppe, erwähnte Ryan selbst in der Sitzung.
Auch wie viele Tote es tatsächlich weltweit durch Covid-19 gegeben hat, ist nicht sicher bekannt. Die Zahl könnte deutlich höher sein als die gemeldete, etwa weil die Todesursache unerkannt blieb. Einige Länder wie etwa Nordkorea haben bisher sogar keine Covid-Toten gemeldet (Stand: 18.11.2020).
Es ist also irreführend, anhand dieser unvollständigen Zahlen eine exakte Sterberate zu berechnen. Außerdem werden unterschiedliche Ansätze zur Berechnung der Todesrate einer Krankheit vermischt. Ein Ansatz ergibt die sogenannte Fallsterblichkeit (CFR) - den Anteil der Todesfälle an der Gesamtzahl der gemeldeten Infektionsfälle. Hier kann das Ergebnis dadurch verzerrt sein, dass zu wenige Infektionen entdeckt werden.
Der andere Ansatz ergibt die sogenannte Infektionssterblichkeit (IFR) - den Anteil der Todesfälle an der Gesamtzahl aller tatsächlich Infizierten. Der IFR-Wert ist immer geringer als der CFR-Wert. Oft werden Antikörperstudien genutzt, um die höhere Zahl aller Infizierten inklusive der Dunkelziffer zu ermitteln.
Die Corona-Kritiker geben an, dass die von ihnen errechnete angebliche Infektionssterblichkeit von 0,14 Prozent «mehr als 24-mal niedriger als die "vorläufige Zahl" der WHO von 3,4% im März» sei. Dieser Vergleich ergibt jedoch keinen Sinn: Die WHO schätzte in einem Bericht vom 6. März 2020 die Fallsterblichkeit (CFR) für Covid-19 auf drei bis vier Prozent. Jedoch merkte die WHO bereits damals an, dass die Infektionssterblichkeit (IFR) niedriger sein werde. Korrigiert hat sich die WHO also nicht. Sie wurde allerdings für diese Aussagen auch von seriösen Wissenschaftlern kritisiert.
Schließlich widersprechen wissenschaftliche Studien der Behauptung, die Infektionssterblichkeit von Corona sei so niedrig wie bei der Grippe. Bei diesen Studien werden meist einzelne Regionen oder Länder betrachtet. Denn wie viele Menschen an Corona sterben, variiert stark - abhängig vom Alter der Erkrankten oder dem Gesundheitssystem an ihrem Wohnort. Die Zahl der tatsächlich Infizierten wird dabei über Antikörper-Untersuchungen ermittelt. So ergibt sich ein Bild, wie viele Menschen tatsächlich in einer Region eine Corona-Infektion hinter sich haben.
In einer deutschen Studie mit fast 1000 Teilnehmern aus dem Landkreis Heinsberg ermittelten die Wissenschaftler laut Universität Bonn eine Infektionssterblichkeit von 0,37 Prozent. In Brasilien ergab eine Studie unter 25 000 Teilnehmern im Mai eine IFR-Sterblichkeit von 1 Prozent. Eine andere Untersuchung kam im März in China zu einem IFR von 0,66 Prozent. In Spanien kamen Forscher zu einem IFR von 1,1 bis 1,4 Prozent bei Männern und 0,58 bis 0,77 Prozent bei Frauen.
Es gibt auch Metastudien, die aus den Erkenntnissen einzelner Länder einen weltweiten Durchschnittswert der Corona-Sterberate errechnen. Weil die Infektionssterblichkeit jedoch von Land zu Land so stark schwankt, sagt ein solcher weltweiter Durchschnitt nur begrenzt etwas darüber aus, wie gefährlich Corona ist.
Eine solche Überblicksstudie von Oktober 2020 ermittelte eine Infektionssterberate von 0,23 Prozent. Es gibt jedoch Kritik an der verwendeten Methode. Eine bessere Methode wird einer Überblicksstudie zugeschrieben, die aktuell noch von Fachkollegen begutachtet wird. Sie gibt den weltweiten Durchschnitt der Infektionssterblichkeit für verschiedene Altersgruppen an: Für Kinder und junge Erwachsene ist die IFR demnach sehr niedrig. Für 55-Jährige liegt sie bei 0,4 Prozent, für 65-Jährige bei 1,4 Prozent, für 75-Jährige bei 4,6 Prozent und für 85-Jährige bei 15 Prozent.
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Links:
Facebook-Posting mit der Behauptung zur Sterblichkeit (18. Oktober):
https://www.facebook.com/piston.slap.9/posts/1288446098164188 (archiviert: https://archive.vn/zBllg)
Webcast WHO:
https://www.who.int/news-room/events/detail/2020/10/05/default-calendar/executive-board-special-session-on-the-covid19-response (archiviert: https://archive.is/2igIF)
Übersicht der aktuell weltweit gemeldeten Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19:
https://coronavirus.jhu.edu/data/mortality (archiviert: http://dpaq.de/hGjWI)
«CNN» zu Covid-Toten in Nordkorea:
https://edition.cnn.com/world/live-news/coronavirus-pandemic-10-10-20-intl/h_7b0a8faa97bf45ab0fecb18d0ea472a9 (archiviert: https://archive.vn/icMGe)
WHO-Informationen zur Berechnung von Sterblichkeit:
https://www.who.int/news-room/commentaries/detail/estimating-mortality-from-covid-19 (archiviert: https://archive.is/DXtXC#selection-6061.0-6105.357)
Bericht der WHO zur Fallsterblichkeit vom 6. März 2020:
https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200306-sitrep-46-covid-19.pdf#page=2 (archiviert: https://archive.is/D6Od3)
Kritik an WHO-Aussagen bei «Science Media Center»:
https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-who-director-generals-comments-that-3-4-of-reported-covid-19-cases-have-died-globally/?cli_action=1603371731.079 (archiviert: https://archive.is/Dxls1)
Universität Bonn zur Heinsberg-Studie:
https://www.uni-bonn.de/news/111-2020 (archiviert: https://archive.is/MFbqO)
Studie Brasilien:
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.05.30.20117531v1.full.pdf#page=9 (archiviert: https://archive.is/vOVrq)
Studie China:
https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30243-7/fulltext(archiviert: https://archive.is/PtfnS)
Studie Spanien:
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.08.06.20169722v1.full.pdf (archiviert: https://archive.is/cUbTs)
Metastudie mit Auswertungen von weltweiten Daten (Oktober 2020):
https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf (archiviert: https://archive.is/mqPgd)
Kritik an dieser Metastudie:
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-diskussion-ueber-studie-der-weltgesundheitsorganisation-wie-toedlich-ist-covid-19-wirklich-a-9d05b174-87fd-44e4-a1a3-da9760fad1d5 (archiviert: https://archive.vn/aPiwI)
Metastudie zur Infektionssterblichkeit mit Einteilung in Altersgruppen (Oktober 2020):
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.07.23.20160895v7.full.pdf (archiviert: http://dpaq.de/S2BRt)
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