Schätzungen zur Grippe nicht mit laborbestätigten Fällen vergleichbar

09.11.2020, 17:08 (CET)

Anhand einer Grafik (hier archiviert) werden auf verschiedenen Social-Media-Plattformen Zahlen des Robert Koch-Instituts zu Grippetoten mit der Zahl der Corona-Toten verglichen. Die Zahl für 2020 ist die mit Abstand kleinste in der Tabelle.

BEWERTUNG: Die Gegenüberstellung ist irreführend: Die Zahlen zur Grippe sind eine sogenannte Exzess-Schätzung. Bei den Corona-Toten handelt es sich hingegen um laborbestätigte Fälle. Zudem werden Faktoren wie die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie nicht berücksichtigt.

FAKTEN: Die in der Grafik genutzten Zahlen zur Grippe stammen aus den Saisonberichten der «Arbeitsgemeinschaft Influenza» des Robert Koch-Instituts (RKI) aus den Jahren 2010 und 2019 und nicht, wie fälschlicherweise angegeben, aus den Jahren 2009 und 2018. In diesen Berichten widmet sich das Institut unter anderem «Influenza-assoziierten Todesfällen».

Die in der Grafik genutzten Werte wurden mittels einer sogenannten Exzess-Schätzung ermittelt. Dafür wird zuerst eine Hintergrundmortalität, also die erwartete Todesrate ohne Einfluss von Influenza, errechnet. «Die mittels statistischer Verfahren geschätzte Anzahl zusätzlicher Todesfälle wird als Exzess-Mortalität bezeichnet», schreibt das RKI. In einer Tabelle aus dem Jahr 2019 führt das Institut im Bericht aber auch laborbestätigte Grippe-Todesfälle auf - deren Zahl ist erwartungsgemäß deutlich kleiner.

Die Exzess-Schätzung wird bei der Bewertung des Ausmaßes einer Grippewelle bevorzugt, unter anderem weil «sich Todesfälle, die der Influenza zuzuschreiben sind, in anderen Todesursachen [...] verbergen können», wie das RKI schreibt. Entsprechend lässt sich den Zahlen entnehmen, dass die Grippe-Saisons 2017/2018 und 1995/1996 besonders stark ausfielen.

Die in der Grafik behauptete Zahl von 10 435 Todesfällen bis zum 29. Oktober 2020 entspricht ungefähr dem Wert, die das RKI Ende Oktober in seinen Lageberichten zur Corona-Pandemie angab. Hierbei handelt es sich jedoch ausschließlich um laborbestätigte Todesfälle. Wie das RKI in einem FAQ-Beitrag schreibt, «werden die Covid-19-Todesfälle gezählt, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 (direkter Erregernachweis) vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind». Zudem können bei Verdacht auch nach dem Tod Untersuchungen auf das Virus vorgenommen werden.

Schon rein aufgrund der Erhebungsmethoden lassen sich die gezeigten Todesfallzahlen also nicht vergleichen. Nicht berücksichtigt werden zudem die vielen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland, wie etwa Kontaktbeschränkungen, Hygienekonzepte und der Einsatz von Mund-Nasen-Bedeckungen - Vorkehrungen, die bei vergangenen Grippewellen nicht großflächig genutzt oder gar staatlich verordnet wurden. Im Gegensatz zum Coronavirus gibt es gegen die Grippe zudem einen Schutz durch Impfungen.

Tatsächlich spielt bei der Bewertung der Ausmaße einer Pandemie auch die Sterblichkeit eine große Rolle. Zum Coronavirus Sars-CoV-2 sind Aussagen bislang aber nur sehr bedingt möglich, auch wenn die Forschung läuft. Viele Faktoren beeinflussen, wie schwer jemand an Corona erkrankt und ob er daran stirbt, etwa das Alter, das lokale Gesundheitssystem oder das Stadium der Ausbruchswelle.

Die sogenannte Fallsterblichkeit (Case Fatality Rate) legt das Verhältnis von Todesfällen und gemeldeten Infektionsfällen zugrunde. Je nach Land liegen die Zahlen zumeist zwischen knapp über 0 und 10 Prozent. Da die gemeldeten Infektionsfälle jedoch auch von Testkapazitäten abhängen, geben diese Zahlen kein genaues Bild über die Tödlichkeit des Coronavirus.

Die sogenannte Infektionssterblichkeit (Infection Fatality Rate) betrachtet das Verhältnis von Todesfällen und allen tatsächlich Infizierten. Das RKI macht dazu aber keine Angaben, weil sich nicht exakt bestimmen lasse, wie viele Menschen sich tatsächlich mit dem Coronavirus infiziert haben. Mehrere Studien haben genau dies jedoch mit verschiedenen Methoden versucht.

In Stockholm errechneten Forscher so eine Sterblichkeitsrate von 0,6 Prozent. Die Heinsberg-Studie in der Gemeinde Gangelt (NRW) ermittelte eine Rate von 0,37. Für die USA kommt eine Metastudie in einem Szenario auf eine Infektionssterblichkeit von 1,3 Prozent. Nach der Auswertung von Daten aus der ganzen Welt geht eine Metastudie von einer durchschnittlichen Sterblichkeit von 0,23 Prozent aus. Eine andere weltweite Metastudie errechnete eine Infektionssterblichkeit von 0,68 Prozent im Mittel.

Auch für die Influenza lässt sich eine Infektionssterblichkeit ermitteln, die je nach Saison und Variante des Influenzavirus unterschiedlich hoch ausfallen kann. Aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden und vieler anderer Faktoren ist allerdings auch hier ein einfacher Vergleich mit Angaben zum Coronavirus nicht möglich. Ausgehend von der Metastudie zu den USA geht aber zum Beispiel der deutsche Virologe Christian Drosten davon aus, dass es bei einer Corona-Infektion eine höhere Wahrscheinlichkeit gibt zu sterben als nach einer Ansteckung mit der Grippe.

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Links:

Beitrag auf Facebook: https://www.facebook.com/Graeber.Rene/posts/1678415645651272 (archiviert: https://archive.vn/0Trb4)

Influenza-Saisonbericht 2009/10 des RKI: https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2009.pdf (archiviert: http://dpaq.de/7LKlK)

Influenza-Saisonbericht 2017/18 des RKI: https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2018.pdf (archiviert: http://dpaq.de/zEPa5)

RKI-Lagebericht zum Coronavirus vom 31. Oktober 2020: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-31-de.pdf?__blob=publicationFile (archiviert: https://archive.vn/MRxTW)

RKI zur Erfassung von Corona-Todesfällen: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Fallzahlen_Meldungen.html#FAQId13972158 (archiviert: https://archive.vn/0Mo3v)

Johns Hopkins University zur Sterblichkeit: https://coronavirus.jhu.edu/data/mortality (archiviert: https://archive.vn/5Rejl)

RKI u.a. zur Letalität bei Corona: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html (archiviert: https://archive.vn/xleO4)

Studie zur Infektionssterblichkeit in Stockholm: https://www.folkhalsomyndigheten.se/contentassets/53c0dc391be54f5d959ead9131edb771/infection-fatality-rate-covid-19-stockholm-technical-report.pdf (archiviert: http://dpaq.de/Fz69J)

Ergebnisse der «Heinsberg-Studie»: https://www.ukbnewsroom.de/ergebnisse-der-heinsberg-studie-veroeffentlicht/ (archiviert: https://archive.vn/MwUtV)

Metastudie mit Angabe zu den USA, noch nicht peer-reviewed: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.07.23.20160895v7.full (archiviert: https://archive.vn/RmGua)

Metastudie mit weltweiten Daten: https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf?ua=1 (archiviert: http://dpaq.de/97DX9)

Weitere Metastudie weltweitem Daten: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1201971220321809#bib0155 (archiviert: https://archive.vn/OlpBa)

NDR-Podcast mit Christian Drosten zu US-Studie: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Drosten-im-Corona-Podcast-Das-Alter-ist-entscheidend,coronavirusupdate118.html (archiviert: https://archive.vn/z3ee7)

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