Standards für Geburtsmedizin sehen kein sofortiges Durchtrennen der Nabelschnur vor
6.11.2020, 17:58 (CET)
Das Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt kann ein sehr emotionaler Moment für frischgebackene Eltern sein. In sozialen Netzwerken wird aber gewarnt, dass dies häufig zu früh für das Baby geschehe. Die Nabelschnur dürfe nicht früher als eine Stunde nach der Geburt durchtrennt werden, heißt es in einem Facebook-Post (hier archiviert). Es gebe eine «stillschweigende und inoffizielle Regel» in Entbindungskliniken, die Nabelschnur sofort zu durchtrennen. Das wirke sich aber negativ auf das Immunsystem des Babys aus. In der Folge drohten gesundheitliche Probleme.
BEWERTUNG: Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Nabelschnur aus gesundheitlichen Gründen nicht früher als eine Stunde nach der Geburt durchtrennt werden dürfe. Studien haben zwar gezeigt, dass Neugeborene besser nicht sofort in der ersten Lebensminute abgenabelt werden sollten. Das sehen die medizinischen Leitlinien hierzu aber auch nicht vor. Vielmehr wird darin empfohlen, mit dem Abnabeln 1 bis 1,5 Minuten nach der Geburt zu warten.
FAKTEN: Zur Betreuung von Neugeborenen in der Geburtsklinik gibt es eine Leitlinie, die unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) entwickelt wurde. Darin sind auch Standards für das Durchtrennen der Nabelschnur nach der Geburt enthalten.
Die Leitlinie wird derzeit überarbeitet. Aktuell wird darin empfohlen, das Baby bei natürlichen Geburten nach 1 bis 1,5 Minuten abzunabeln. Alternativ könne das Auspulsieren der Nabelschur abgewartet werden. Andere Maßgaben gelten demnach für Frühgeburten.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Babys nicht sofort abzunabeln, sondern erst nach ein bis drei Minuten.
In der gegenwärtigen Praxis werde die Abnabelung in der Regel nach der Vollendung der ersten Lebensminute vollzogen, erklärt Privatdozentin Tanja Groten, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe der DGGG. Zusätzlich kann ein längeres Auspulsieren der Nabelschnur abgewartet werden, wenn Kind und Mutter keine klinischen Auffälligkeiten zeigen und die Eltern dies wünschen.
In ihrem Haus sei die Abnabelung nach einer Minute auch im Rahmen des Kaiserschnittes als Standard eingeführt worden, erläutert Groten, die als Oberärztin an der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena arbeitet. Lediglich bei einer Notfallsituation sei eine Abweichung von diesem Vorgehen notwendig.
Ein Durchtrennen nach einer Stunde, wie dies im Internet propagiert wird, entziehe sich dagegen «jeglichen medizinischen Standards», so Groten.
Für das Neugeborene kann es gesundheitliche Vorteile haben, wenn es nicht sofort abgenabelt wird. Hintergrund ist, dass dann noch Blut aus der mütterlichen Plazenta über die pulsierende Nabelschnur zum Kind gelangt. Das könne zu einer verbesserten kindlichen Sauerstoffversorgung führen, heißt es in der «Deutschen Hebammen Zeitschrift».
Internationale Studien konnten Groten zufolge außerdem zeigen, dass Kinder, die nach der ersten Lebensminute abgenabelt wurden, ein geringes Risiko für eine Blutarmut haben - also einen Mangel an roten Blutkörperchen oder rotem Blutfarbstoff.
Außerdem seien bei diesen Babys die Eisenspeicher höher als bei Kindern, die in der ersten Lebensminute abgenabelt wurden. Gleichzeitig bestehe jedoch die Gefahr einer Überladung des Neugeborenenstoffwechsels und in der Folge ein erhöhtes Risiko einer Gelbsucht. In seltenen Fällen muss das Kind dann eine Lichttherapie erhalten oder sogar in die Kinderklinik verlegt werden.
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Links:
Facebook-Beitrag: https://www.facebook.com/ulli.V.steppenwolf/posts/10219733504069740 (archiviert: https://archive.vn/V5dBM)
Leitlinie zur Betreuung von Neugeborenen: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-005l_S2k_Betreuung_von_gesunden_reifen_Neugeborenen_2012-10-abgelaufen.pdf (archiviert: http://dpaq.de/T5Z2E)
WHO-Empfehlungen: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/75411/9789241548502_eng.pdf (archiviert: http://dpaq.de/78GBL)
WHO-Papier mit Studien zum optimalen Zeitpunkt des Abnabelns (ab Seite 50): http://dpaq.de/fx8MR (archiviert: http://dpaq.de/ZdbuO)
Arbeitsgemeinschaft Geburtshilfe und Pränatalmedizin der DGGG: https://www.ag-geburtshilfe.de/
Artikel im «Ärzteblatt»: https://www.aerzteblatt.de/archiv/117485/Geburtshilfe-Nabelschnur-sollte-nicht-zu-rasch-durchtrennt-werden (archiviert: https://archive.vn/DAg0y)
Artikel in der «Deutschen Hebammen Zeitschrift»: https://www.dhz-online.de/no_cache/archiv/archiv-inhalt-heft/archiv-detail-leseprobe/artikel/eine-frage-des-niveaus/ (archiviert: https://archive.vn/wIQNG)
Studie zur späten Abnabelung und dem verminderten Risiko einer Blutarmut: https://doi.org/10.1136/bmj.d7157
Weitere Studien zum Zeitpunkt des Abnabelns in der «Deutschen Hebammen Zeitschrift»: http://dpaq.de/sBvOS (archiviert: https://archive.vn/5MOMF)
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