Im März und April gab es eine Übersterblichkeit in Deutschland

11.11.2020, 15:04 (CET)

Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind bis Anfang November 2020 weltweit in Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben. Den Verlauf der Pandemie in Deutschland schätzen viele Wissenschaftler bis zum Herbst als vergleichsweise glimpflich ein. Heißt das, es gab in Deutschland keine Corona-Toten? In einem Facebookpost wird behauptet: «Weder im März, noch im April hatten wir eine Notlage, noch eine Übersterblichkeit.» (hier archiviert) Stimmt das?

BEWERTUNG: Ende März und in mehreren Wochen im April 2020 sind in Deutschland mehr Menschen gestorben als im Vergleichszeitraum in den Jahren zuvor. Später hat unter anderem die Begrenzung von Kontakten dazu geführt, dass die Übersterblichkeit abnahm.

FAKTEN: Die Sterbefallzahlen des Gesamtjahres 2020 werden erst im kommenden Jahr veröffentlicht. Doch schon jetzt ist ersichtlich: In der letzten Märzwoche sowie mehreren Wochen im April gab es in Deutschland eine Übersterblichkeit. Aus einer im Oktober veröffentlichten Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass in diesem Zeitraum die Zahl der Sterbefälle deutlich über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 lag.

Übersterblichkeit definiert das Amt dabei so: «Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahresverlauf mehr Menschen sterben, als nach den Fallzahlen vergangener Jahre zu erwarten gewesen wäre.» In den Wochen von Ende März bis Anfang Mai 2020 verzeichnete das Statistische Bundesamt etwa 8700 mehr Sterbefälle als in den Jahren zuvor, darunter etwa 8200 Covid-19-Todesfälle. Diese Zahl bezieht sich dabei auf Sterbefälle in diesen Wochen, nicht auf die täglichen Meldungen.

Für den starken Zusammenhang mit der Pandemie spricht aus Sicht des Amtes unter anderem, dass in diesem Zeitraum die saisonalen Grippe-Todesfälle in der Regel zurückgegangen waren und die erhöhten Sterbezahlen vor allem in Bayern und Baden-Württemberg auftraten - Bundesländer, die früh von der Pandemie betroffen waren. Sehr sichtbar ist der Anstieg in Kalenderwoche 14 und 15, den ersten vierzehn Tagen im April.

Felix zur Nieden, Experte für Demografie im Statistischen Bundesamt, fasst die Auswertung so zusammen: «Effekte haben wir ab der letzten Märzwoche im Jahr 2020 gesehen und dann den ganzen April über: Da hatten wir deutlich erhöhte Sterbefallzahlen. Wenn man sich das Ganze alters­spezifisch anschaut, dann sind es vor allem die über 80-Jährigen, die davon betroffen waren

Forschenden der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen zufolge seien «zwischen März und Mai dieses Jahres bundesweit 8.071 Menschen mehr gestorben, als gemäß wissenschaftlicher Prognosen vor der Covid-19-Pandemie zu erwarten war». Bei dieser Zahl ist aber mehreres zu beachten.

Es handelt sich nicht um absolute Fallzahlen, sondern um eine Exzess-Schätzung der Übersterblichkeit, bei der im Vergleich zu den früheren Jahren die Wissenschaftler mehrere Faktoren berücksichtigen: Etwa die jeweils jährliche Bevölkerungsstruktur, Sterberate oder welche Altersgruppen von Ansteckungen betroffen sind.

Außerdem haben die Wissenschaftler einen weiteren Zeitraum für die gesamte erste Pandemie-Welle betrachtet. Das Ergebnis: Würde man berücksichtigen, dass für das Frühjahr 2020 eigentlich sowieso mehr Todesfälle erwartet worden waren, seien es 4926 Todesfälle weniger als statistisch erwartet. Die Wissenschaftler bemerken also, dass die Sterberate während der ersten Pandemiewelle geringer als erwartet ausgefallen sei.

Wieso setzte sich die zeitweise Übersterblichkeit nicht fort? Die Antwort der Wissenschaftler: «Es wird zudem vermutet, dass das Krisenmanagement von Bund und Ländern die Entwicklung positiv beeinflusst hat. Indem zwischenmenschliche Kontakte eingeschränkt und viele Operationen verschoben wurden, sank auch die Wahrscheinlichkeit, sich mit anderen Krankheiten anzustecken und daran zu sterben.»

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Links:

Post mit Behauptung: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10220052608160189&set=a.2192929977469&type=3 (archiviert: http://dpaq.de/tDmwY)

Statistik zu den Todeszahlen der Corona-Pandemie zum Stand 22.10.2020 von der John Hopkins-Universität, archiviert: https://archive.vn/90bU2

Destatis zu Sterbefallzahlen 2020, Tabelle 1, S. 46: https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2020/04/sonderauswertung-sterbefallzahlen-042020.pdf?__blob=publicationFile# (archiviert: http://dpaq.de/MfMCk)

Interview mit Felix zur Nieden, Autor der Studie: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Podcast/podcast-sterbefaelle.html (archiviert: https://archive.vn/X4wol)

Meldung zur Studie: https://medecon.ruhr/2020/10/sterberate-waehrend-erster-pandemiewelle-geringer-als-erwartet/ (archiviert: http://dpaq.de/iRJw9)

Studie: https://www.journalofinfection.com/article/S0163-4453(20)30596-X/fulltext (archiviert: http://dpaq.de/2iqTG)

Artikel über die Diskussion über Sterbestatistiken: https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/wie-viele-menschen-sterben-an-corona/ (archiviert: http://dpaq.de/U0eVm)

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