Viele Menschen profitieren von Steuereinnahmen

15.10.2020, 17:33 (CEST)

799,3 Milliarden Euro Steuern hat der deutsche Staat im Jahr 2019 eingenommen - aber woher kommt dieses Geld eigentlich genau? In der Überschrift eines Artikels wird behauptet: «Von 82 Millionen Einwohnern sind bloß noch 15 Mio effektive Netto-Steuerzahler» (hier archiviert). Zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die restlichen Erwerbstätigen keinen Beitrag zu den Steuereinnahmen leisten würden, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten.

Dazu angestellt wird folgende Rechnung: Nur 27 Millionen der Erwerbstätigen in Deutschland seien «Nettosteuerzahler». Davon würden «12 Millionen direkt oder indirekt vom Staat abhängen», sie müssten darum rausgerechnet werden: «Denn ihre Löhne werden von Steuergeldern bezahlt und somit auch die Lohnsteuern und anderen Steuern». Deswegen seien es schlussendlich nur 15 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, «die effektiv Steuern aus eigener Kraft zahlen».

BEWERTUNG: Die Aussagen zu Nettosteuerzahlern sind stark vereinfacht und nicht in den Kontext gestellt.

FAKTEN: Am meisten Anteil am Steueraufkommen in Deutschland haben in der Regel die Umsatzsteuer und die Einkommen- und Lohnsteuer, sowie die von Unternehmen gezahlte Gewerbesteuer. Die Umsatzsteuer, auch Mehrwertsteuer genannt, leistet jeder, der etwas kauft. Die Lohnsteuer dagegen ist eine direkte Belastung, die jeder Erwerbstätige individuell leisten muss.

Wer Steuern zahlt, bekommt danach nicht wie im Geschäft eine unmittelbare Gegenleistung zurück, vielmehr werden mit den Steuereinnahmen zahllose öffentliche Leistungen finanziert, zum Beispiel Infrastruktur, das Kindergeld, Entlohnungen für öffentliche Berufe wie Polizisten und Lehrer oder Sozialleistungen, die die Bürger bei Bedarf erhalten. Kann man ermitteln, wer mehr Geld vom Staat bekommt als er an den Staat zahlt, wenn man viele dieser Leistungen außer Acht lässt?

Wie viele deutsche Steuerzahler tatsächlich nach einer Schlussrechnung als Nettoempfänger gelten, hat eine Studie des «Instituts für deutsche Wirtschaft» in Köln ermittelt. Das Ergebnis: Vor allem Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung erhalten durchschnittliche höhere Zahlungen vom Staat als sie an diesen abführen. Der Ökonom Martin Beznoska, Autor der Studie, sagt der dpa auf Anfrage: «Man kann Nettozahler nur in Bezug auf erhaltene monetäre Transfers und gezahlte Steuern einfach ausrechnen. Nach meiner Studie wären etwa 16 Prozent der deutschen Haushalte Nettoempfänger. Das sind gut 6,5 Millionen Haushalte. Rechnet man die Sozialversicherungen dazu, dann sind es 43 Prozent Nettoempfänger. Hauptgrund sind die Gesetzlichen Rentenzahlungen, die vor allem in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung anfallen.»

Was aber, wenn in der Saldo-Rechnung indirekte Leistungen eine Rolle spielen, die aus Steuereinnahmen bezahlt werden? «Bei der Berücksichtigung von Realtransfers des Staates wie kostenlose Kita, Schule, Universität, Gesundheitsleistungen, Infrastruktur etc. würde das Bild sich stark ändern», sagt Beznoska, «denn viele profitieren von staatlichen Leistungen. Dies wäre eine andere Betrachtung. So einfach wie da gerechnet wird, ist es aber nicht. Denn die Alternative wäre alles privat bereit zu stellen. Dann wäre die Steuerlast zwar niedriger, aber die Belastung unter Umständen höher in Form von privaten Ausgaben für diese Leistungen.»

Die Behauptung, 12 Millionen in öffentlichen Tätigkeiten arbeitende Menschen könnten nicht als Steuerzahler gelten, hält Beznoska nicht für plausibel. Warum können die «Staatsangestellten» nicht rausgerechnet werden? Es sei zwar richtig, dass sie zum Großteil aus Steuergeldern bezahlt werden. «Allerdings sind diese keine Transferempfänger, sondern erhalten ihren Lohn im Austausch gegen Arbeitsleistung. Diese erzeugt Mehrwert, genau wie Dienstleistungen in der Privatwirtschaft und muss auch in der Systematik der Nettobelastung gleichbehandelt werden», sagt Beznoska.

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Links:

Website mit Artikel: https://schweizerzeitung.ch/deutschland-von-82-millionen-einwohnern-sind-bloss-noch-15-mio-netto-steuerzahler/ (archiviert: https://archive.vn/wH5E1)

Übersicht zu den Steuereinnahmen bei Destatis: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Steuern/Steuereinnahmen/steuereinnahmen.html (archiviert: https://archive.vn/TDC0x)

Definition von Steuern in der Abgabenordnung: https://dejure.org/gesetze/AO/3.html (archiviert: http://dpaq.de/7XS6i)

Glossar-Eintrag des Bundesfinanzministeriums zu Steuern: https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Service/FAQ_Glossar/Glossar/Functions/glossar.html?lv2=90fcab6c-33e2-4679-be47-5124a129e42e&lv3=7f846a65-eb21-4afd-9ff1-c5a19fd0535c#glossar7f846a65-eb21-4afd-9ff1-c5a19fd0535c (archiviert: https://archive.vn/7L1Ms)

Studie des «Instituts für Deutsche Wirtschaft»: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/martin-beznoska-die-verteilung-von-steuern-sozialabgaben-und-transfereinkommen-der-privaten-haushalte.html (archiviert: http://dpaq.de/W99R6)

Artikel über die Studie: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/arm-und-reich/iw-koeln-test-gehoeren-sie-zu-den-nettozahlern-16622168.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 (archiviert: https://archive.vn/eqJ9N)

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