Gericht erklärte Wahlgesetz, nicht aber alle Wahlen seit 1956 für nichtig
1.10.2020, 10:29 (CEST)
«Verfassungswidrig» – dieses Urteil fällte das Bundesverfassungsgericht am 25. Juli 2012 über das 2011 reformierte Bundeswahlgesetz. Ein Autor des Blogs «DERUWA» (Deutschland-Russland-Wahrheit) zieht daraus einen weitreichenden Schluss: Dem Urteil folgend habe es von 1956 an bis heute «keine einzige gültige Wahl» gegeben, womit auch alle seither formulierten Gesetze und Verordnungen «nichtig» seien; die Beschlussgremien, Bundesrat und Bundestag, seien schließlich gar nicht rechtmäßig und legitimiert gewesen. Der Rechtsstaat sei darum seit mehr als einem halben Jahrhundert «erloschen» (hier archiviert).
BEWERTUNG: Die Behauptung ist falsch. Das Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 bezog sich allein auf die seinerzeit jüngste und noch nicht angewandte Fassung des Bundeswahlgesetzes – und erklärte damit nicht alle vorangehenden Wahlen für nichtig.
FAKTEN: Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich im Jahr 2012 nicht zum ersten Mal mit dem Bundeswahlgesetz. Bereits am 3. Juli 2008 hatte es entschieden, die geltenden Regelungen, nach denen im Jahr 2005 der Bundestag gewählt wurde, seien nicht mit der Verfassung vereinbar.
Die Karlsruher Richter beanstandeten vor allem den paradoxen Effekt des «negativen Stimmgewichts». Man spricht davon, wenn eine Partei unter bestimmten Umständen durch weniger Wählerstimmen mehr Parlamentsmandate gewinnt - oder anders herum. Dies führe, so ist in Absatz 103 des Urteils zu lesen, zu «willkürlichen» Ergebnissen», die den Wahlberechtigten «widersinnig erscheinen». Das negative Stimmgewicht ist eng verwoben mit den Überhangmandaten. Sie fallen an, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort nach dem Zweitstimmenanteil zustehen würden.
«Schon in diesem ersten Urteil erklärte das Gericht allerdings ausdrücklich, dass damit die Wahl von 2005 nicht für ungültig erklärt werde», so die einstige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, die damals an der Urteilsfindung mitwirkte. Zudem, fügt die Juristin auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) hinzu, werde über die Gültigkeit einer Wahl ausschließlich in einem Wahlprüfungsverfahren entschieden. Und auch dort, so Lübbe-Wolff, führe nicht jeder festgestellte Fehler zwangsläufig zur Ungültigkeit der Wahl.
Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung versuchte anschließend, die Überhangmandate in den Bundesländern, in denen sie anfallen, zu neutralisieren. Doch ihre hochkomplizierte Lösung machte das Problem eher noch größer. Ein Zusammenschluss aus SPD, Grünen und mehr als 3000 Bürgern klagte gegen die Wahlrechtsreform von 2011. Die Verfassungsrichter gaben am 25. Juli 2012 der Klage statt: Auch diese Novellierung des Wahlgesetzes kollidiere mit dem Grundgesetz.
Anders als im Blog-Beitrag behauptet, erklärten die Karlsruher Richter damit allerdings nicht auch das alte Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig. «Verfahrensgegenstand waren allein die Regelungen in der Fassung von 2011», erläutert Max Schoenthal, Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts, gegenüber der dpa.
Und die ehemalige Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff fügt hinzu: «Das Urteil aus dem Jahr 2012 ist nicht aus einem Wahlprüfungsverfahren hervorgegangen und kann damit auf die Gültigkeit der vorausgegangenen Bundestagswahl (von noch früheren Wahlen ganz zu schweigen) schon aus diesem Grund keine Auswirkungen haben.» Die Behauptungen, der Rechtsstaat sei in Deutschland seit 1956 erloschen und es habe seither keine einzige gültige Wahl gegeben, «sind daher grob falsch», so Lübbe-Wolff.
Dass eine einzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Vielzahl längst getroffener Regelungen ungültig machen könnte, ist ohnehin kaum möglich. Erklärt das höchste bundesdeutsche Gericht ein Gesetz für nichtig, wirkt dies zwar tatsächlich auch in die Vergangenheit – und bewirkt rechtlich einen Zustand, als hätte es diese Rechtsnorm nie gegeben. Die Nichtigkeit eines Gesetzes führt aber nicht dazu, dass alle anderen auf seiner Grundlage erlassenen Entscheidungen ungültig würden. Sie bleiben wirksam, so ist es im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt.
Die Schwächen des Bundeswahlgesetzes sind übrigens bis heute nicht vollständig getilgt. Nachdem also das geltende Wahlrecht zweimal verfassungsrechtlich gekippt worden war, beschloss der Bundestag 2013 die nächste Variante. Der Effekt des negativen Stimmrechts wurde verhindert und Überhangmandate wurden ausgeglichen; dadurch allerdings wuchs der Bundestag enorm an.
Erst kürzlich beschloss die große Koalition darum unter anderem einen «Dämpfungsmechanismus». Der Gesetzentwurf sieht vor, dass sogenannte Überhangmandate künftig erst nach dem dritten Überhangmandat ausgeglichen werden und dass Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden können.
Eine grundlegende Reform steht zur Wahl 2025 an; dann soll die Zahl der Wahlkreise und mit ihr die der Parlamentsmandate sinken.
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Links:
Blog-Eintrag auf «DERUWA»: http://deruwa.blogspot.com/2015/09/bundesverfassungsgericht-bestatigt-lug.html (archiviert: https://archive.vn/jDKXB)
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/07/cs20080703_2bvc000107.html (archiviert: https://archive.vn/dOZLq)
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz vom 25. Juli 2012: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2012/07/fs20120725_2bvf000311.html (archiviert: https://archive.vn/JpzaA)
Erläuterung zur Wirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht: https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Wichtige-Verfahrensarten/Wirkung-der-Entscheidung/wirkung-der-entscheidung_node.html (archiviert: https://archive.vn/dYfSe)
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Paragraf 79, Absatz 2: http://www.gesetze-im-internet.de/bverfgg/__79.html (archiviert: https://archive.vn/hxrMi)
Koalitionsbeschluss zur Wahlrechtsreform vom 25. August 2020, ab Seite 4: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/20200825_Koalitionsausschuss.pdf (archiviert: http://dpaq.de/WURhk)
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