Begriff «Verschwörungstheorie» spätestens seit 19. Jahrhundert, keine CIA-Erfindung
11.9.2020, 14:01 (CEST)
Geraune darüber, was wirklich dahintersteckt – so werden häufig Verschwörungstheorien geboren. Ihre Anhänger widersprechen oft einer gängigen, belegbaren Erklärung und unterstellen bestimmten mächtigen Personen oder Gruppen, der Gesellschaft schaden zu wollen. Nun wirft man dem US-Geheimdienst CIA vor, den Ausdruck «Verschwörungstheoretiker» erfunden zu haben: als Totschlagargument gegen alle, die die Arbeit der Regierung kritisierten. «Geboren wurde die Formel 1967 in den Denklaboren der CIA», heißt es in einem Artikel (hier archiviert).
BEWERTUNG: Falsch. Der englische Ausdruck für «Verschwörungstheoretiker» wurde schon vor 1967 verwendet. Den englischen Begriff für «Verschwörungstheorie» gibt es sogar seit mindestens 1863. Spätestens seit seiner Verwendung durch den Philosophen Karl Popper im Jahr 1948 ist der Ausdruck populär.
FAKTEN: Den Glauben an Komplotte und finstere Machenschaften gibt es seit Menschengedenken. «Verschwörungstheorie» ist allerdings ein Begriff der Moderne. Manche meinen, die CIA habe den Ausdruck «conspiracy theory» in Zusammenhang mit dem Attentat auf John F. Kennedy im November 1963 in Dallas erfunden.
Um die Ermordung des US-Präsidenten, für die später die sogenannte Warren-Kommission in ihrem Abschlussbericht den Attentäter Lee Harvey Oswald allein verantwortlich machte und Mittäter ausschloss, entstanden über die Jahre alle möglichen Mythen: Dass möglicherweise die Mafia die Strippen zog, Kuba, die Sowjets, die Rüstungsindustrie, vielleicht auch Kennedy-Nachfolger Lyndon B. Johnson zusammen mit der CIA oder organisierter Kriminalität.
Weil diese Erzählungen offenbar schon damals überhandnahmen, wurde am 1. April 1967 innerhalb des US-Geheimdienstes CIA ein Memo unter der Nummer 1035-960 verschickt. Dieses zielte unter anderem darauf ab, CIA-Leute weltweit mit Argumenten gegen diejenigen auszustatten, die die Ergebnisse der Warren-Kommission zum Kennedy-Attentat in Frage stellten. Das Schreiben, eine Art Argumentationshilfe, gelangte Ende der 1970er Jahre über die «New York Times» an die Öffentlichkeit. Anhand dessen werden bis heute zwei Mythen erzählt:
1. Die CIA führe darin erstmals die Wörter «conspiracy» und «theory» zusammen - erfinde also die Begriffe «Verschwörungstheorie» oder «Verschwörungstheoretiker».
2. Etwas moderater: Die CIA widme den damals schon bekannten, weitgehend neutralen Begriff «Verschwörungstheorie» erstmals um und nutze ihn für ihre politische Propaganda.
Die erste Behauptung ist schnell zu widerlegen: Das Englisch-Wörterbuch «Merriam-Webster» gibt als früheste Verwendung des Begriffs «conspiracy theory» das Jahr 1863 an. Damals hatte der Verfasser eines Leserbriefs an die «New York Times» diesen Ausdruck bereits in der noch heute verwendeten Bedeutung eingesetzt. Der Autor antwortete auf einen zuvor veröffentlichten Text, in dem die angebliche finanzielle Unterstützung der Südstaaten durch Großbritannien im US-Bürgerkrieg aufgeworfen wurde: Diese Ansicht sei «am leichtesten mit der Verschwörungstheorie zu erklären».
Nach Angaben des Historikers Andrew McKenzie-McHarg von der Australian Catholic University in Sydney, der die Geschichte der Verschwörungstheorien erforscht, erlangte der Ausdruck in den 1870er Jahren in der englischsprachigen Presse bereits einige Verbreitung. Der Begriff «conspiracy theorist» findet sich etwa schon 1962, also fünf Jahre vor dem Memo, in einem Buch über Rechtsradikalismus in den USA.
Zur zweiten Behauptung muss man etwas weiter ausholen: In dem CIA-Memo kommt eine Verbindung der beiden Bedeutungen von «conspiracy» und «theory» zwei Mal vor - und zwar in diesem Absatz:
«Verschwörungstheorien («conspiracy theories») haben häufig den Verdacht auf unsere Organisation gelenkt, zum Beispiel durch die fälschliche Behauptung, Lee Harvey Oswald habe für uns gearbeitet. Ziel dieser Depesche ist es, Material zu liefern, um die Behauptungen der Verschwörungstheoretiker («conspiracy theorists») zu bekämpfen und zu diskreditieren - und genauso, um die Verbreitung solcher Behauptungen in anderen Ländern zu verhindern.»
In der Nachricht wird für den Begriff an keiner Stelle eine genaue Definition gegeben, er scheint also schon damals im allgemeinen Sprachgebrauch vorhanden zu sein. Zudem ist nirgends im ganzen Memo zu lesen, der Terminus «Verschwörungstheorie» solle gegen die Alternativ-Erklärungen zur Kennedy-Ermordung angewendet werden. Unklar ist auch, ob der Ausdruck damals überhaupt solch eine negative Bedeutung hatte, wie sie ihm heute meist angehängt wird.
Schon weit vor dem 1967er Memo der CIA beschäftigte sich zum Beispiel der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper mit Verschwörungen und den Erzählungen darüber. 1948 etwa beschreibt er die von ihm so bezeichnete «Verschwörungstheorie der Gesellschaft»: An die Stelle von Göttern, die in der Vergangenheit die Fäden in ihren Händen hielten, würden nun «verschiedene mächtige Menschen und Gruppen» gesetzt. «Aber den Platz der Götter auf dem Olymp des Homer haben nun die Weisen von Zion, die Monopolisten, die Kapitalisten oder die Imperialisten eingenommen», so Popper in einem Vortrag.
Der baden-württembergische Antisemitismus-Beauftrage Michael Blume schreibt mit Verweis auf den Philosophen: «In die heutige Sprache übersetzt hatte Popper absolut Recht: Aus schlecht geschwurbelten Theorien werden postfaktische Verschwörungsmythen, die schließlich vermeintliche Weltverschwörer im Bund mit dem Teufel konstruieren.»
Im Endeffekt greift die CIA 1967 in ihrem Memo den Begriff nur auf - und wendet ihn im Sinne Poppers auf die gegen sie gerichteten Unterstellungen an. Eine Aufforderung, «Verschwörungstheorie» als Diskurskeule zu verwenden, ist nirgends zu erkennen.
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Links:
«Conspiracy theory» im «Merriam-Webster»: https://www.merriam-webster.com/dictionary/conspiracy%20theory
«New York Times»-Leserbrief vom 11.1.1863 mit dem Ausdruck «conspiracy theory» (über Login): https://www.nytimes.com/1863/01/11/archives/english-insincerity-on-the-slavery-question.html
Text in der «New York Times» vom 4.1.1863 (über Login): https://www.nytimes.com/1863/01/04/archives/england-and-america-british-feeling-and-policy-toward-america.html
Digitalexperte Mike Caulfield von der Washington State University Vancouver über den «New York Times»-Leserbrief von 1863: https://hapgood.us/2018/12/24/the-first-use-of-the-term-conspiracy-theory-is-much-earlier-and-more-interesting-than-historians-have-thought/
«New York Times» am 26.12.1977 über CIA-Memo (über Login): https://www.nytimes.com/1977/12/26/archives/cable-sought-to-discredit-critics-of-warren-report.html
CIA-Memo 1035-960 «Concerning Criticism of the Warren Report» vom 1.4.1967: https://www.maryferrell.org/showDoc.html?docId=53510#relPageId=2&tab=page (archiviert: http://dpaq.de/Hfv8x)
Buch von 1962 mit Ausdruck «conspiracy theorist»: https://books.google.de/books?id=xBrflYlWWwgC&q=%22conspiracy+theorist%22&dq=%22conspiracy+theorist%22&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwiQ7Oel-eDrAhWFCOwKHUqEDp44KBDoATAAegQIABAC
Andrew McKenzie-McHarg über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie» (ab S. 62): http://dpaq.de/t31ju
Profil von Andrew McKenzie-McHarg: https://www.acu.edu.au/research/our-research-institutes/institute-for-religion-and-critical-inquiry/our-people/dr-andrew-mckenzie-mcharg
Warren-Abschlussbericht von 1964: https://www.archives.gov/research/jfk/warren-commission-report
Bernd Harder über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://www.ezw-berlin.de/html/15_9850.php
Karl Popper über Verschwörungstheorien in mehreren Vorträgen von 1948, in «Vermutungen und Überlegungen» ab S. 185 und ab S. 515: https://books.google.de/books?id=pPvIR2oEgM4C&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false
Podcast des Antisemitismus-Beauftragen Michael Blume über Begriff «Verschwörungstheorie»: https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/files/2020-04-27-CIA-Verschw%C3%B6rungstheoretiker.pdf
Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften über frühere Nachweise des Ausdrucks «conspiracy theory»: https://blog.gwup.net/2016/08/11/verschworungstheorie-eine-erfindung-des-cia/ (archiviert: https://archive.vn/ZSgLJ)
«The Conversation»-Faktencheck über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://theconversation.com/theres-a-conspiracy-theory-that-the-cia-invented-the-term-conspiracy-theory-heres-why-132117
Facebook-Post mit Falschbehauptung über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=3797874400274853&id=592482150814110 (archiviert: https://archive.vn/69cw7)
«Heise»-Artikel mit Falschbehauptung über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://www.heise.de/tp/news/50-Jahre-Verschwoerungstheoretiker-3674427.html (archiviert: http://dpaq.de/opxuy)
«RT Deutsch»-Artikel mit Falschbehauptung über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://deutsch.rt.com/international/48754-jahrestag-keule-cia-verschworungstheorie-usa-kennedy/ (archiviert: https://archive.vn/CNE0v)
«Pravda TV»-Artikel mit Falschbehauptung über den Ursprung des Begriffs «Verschwörungstheorie»: https://www.pravda-tv.com/2017/04/jahrestag-einer-keule-wie-die-cia-vor-50-jahren-den-begriff-verschwoerungstheoretiker-erfand/ (archiviert: https://archive.vn/91Vhp)
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