In den Nürnberger Prozessen wurden 161 Nazis verurteilt - nicht 19

24.08.2020, 11:24 (CEST)

Im November 1945, ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, begannen die «Nürnberger Prozesse». In diesen klagten die Siegermächte NS-Verbrecher an. In einem Facebook-Posting heißt es, in den Prozessen «wurden 19 Nazis verurteilt». Der Rest, so wird angedeutet, sei ungestraft davongekommen, viele hätten noch Karriere gemacht.

BEWERTUNG: Allein im prominentesten «Hauptkriegsverbrecherprozess» wurden 19 führende Nationalsozialisten verurteilt; in zwölf «Nachfolgeprozessen» wurden 142 weitere NS-Täter bestraft. Dennoch blieben etliche unbescholten und konnten ihre Karrieren fortsetzen.  

FAKTEN: Bereits im November 1943 hatten die Alliierten in der Moskauer Erklärung beschlossen, Hauptverantwortliche der NS-Verbrechen vor Gericht zu stellen. Die entsprechenden Verfahren begannen im November 1945 und gingen – wegen ihres Gerichtsortes – als «Nürnberger Prozesse» in die Geschichte ein.

Hinter der Wendung «Nürnberger Prozesse» verbergen sich mehr als ein Dutzend Verfahren. Der wohl berühmteste ist der Hauptkriegsverbrecherprozess, der am 20. November 1945 in Nürnberg begann. Der Gerichtsort war von den Alliierten mit Bedacht gewählt: In der Stadt, wo einst monumentale NS-Reichsparteitage stattgefunden hatten und die entwürdigenden Nürnberger Rassegesetze verkündet worden waren, sollte nun vernünftiges, menschliches Recht gesprochen werden.

Der Auftaktprozess markierte eine juristische Revolution: Erstmals standen Mitglieder einer Staatsführung vor Gericht und wurden persönlich für Verletzungen des Völkerrechts angeklagt. Die Siegermächte hatten dazu eigens einen Internationalen Militärgerichtshof ins Leben gerufen; jede Besatzernation stellte zwei Richter.

Nach neun Monaten wurden am 30. September und am 1. Oktober 1946 die Urteile gegen 19 der 22 Angeklagten gesprochen (unter ihnen etwa NS-Luftwaffenchef Hermann Göring, auf dem Facebook-Foto ganz links auf der Anklagebank, sowie der einst stellvertretende NSDAP-Leiter Rudolf Heß neben ihm). Zwölf Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, drei zu lebenslanger Haft und vier zu langjährigen Haftstrafen. Drei Angeklagte sprach das Gericht frei.

Mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess waren die Nürnberger Prozesse jedoch nicht beendet. Zwischen 1946 bis 1949 fanden im Nürnberger Justizpalast zwölf «Nachfolgeprozesse» statt. Sie wurden aber – anders als der Hauptprozess – nicht vor einem international besetzten Gericht, sondern vor einem US-Militärgericht verhandelt.

Die Nachfolgeprozesse richteten sich - wie aus dem Schlussbericht des US-Chefanklägers Telford Taylor ab Seite 91 hervorgeht - gegen 185 hochrangige Mediziner, Juristen, Industrielle, Militärs, Beamte Diplomaten, SS- und Polizeiführer. 177 mussten sich schließlich vor Gericht verantworten; die übrigen acht waren unterdessen verstorben oder verhandlungsunfähig erklärt worden. Von diesen 177 erhielten 35 Freisprüche, 24 wurden zum Tode, 20 zu lebenslanger Haft und 98 zu meist mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Insgesamt wurden damit in den «Nürnberger Prozessen» 161 Nazis verurteilt, nicht 19, wie bei Facebook behauptet.

Tatsächlich wurden damit längst nicht alle deutschen Beteiligten und Profiteure des NS-Regimes bestraft. Wie unter anderem der renommierte Historiker Norbert Frei dokumentiert hat, besetzten etliche, die während der NS-Diktatur die Elite von Wirtschaft und Gesellschaft gebildet hatten, im Nachkriegsdeutschland wieder hohe Positionen. Ihre Verbrechen wurden nur halbherzig verfolgt – auch weil die Besatzer auf Fachleute wie sie angewiesen waren.  

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Links:

Facebook-Beitrag: https://www.facebook.com/photo.php?fbid=181240843414500&set=a.103224594549459&type=3&theater (archiviert: http://archive.vn/Hayh1)

Überblicksinformationen zu «Nürnberger Prozessen»: https://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/themen/die-nuernberger-prozesse/nuernberger-prozesse/(archiviert: http://dpaq.de/4W4vt)

Eintrag «Nürnberger Prozesse» im «Historischen Lexikon Bayerns» (Abschnitt Vorgeschichte): https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/N%C3%BCrnberger_Prozesse (archiviert: http://dpaq.de/TlGnh)

Informationen über «Internationalen Militärgerichtshof» https://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/themen/die-nuernberger-prozesse/der-internationale-militaergerichtshof-1945-1946/(archiviert: http://dpaq.de/TfNhq)

Informationen über Urteile im «Hauptkriegsverbrecherprozess»: https://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/themen/die-nuernberger-prozesse/der-internationale-militaergerichtshof-1945-1946/die-urteile/ (archiviert: http://dpaq.de/XPb77)

Informationen über «Nachfolgeprozesse»: https://web.archive.org/web/20200814104231/https://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/themen/die-nuernberger-prozesse/die-nuernberger-nachfolgeprozesse/ (archiviert: http://dpaq.de/fMquT)

Schlussbericht des US-Chefanklägers Telford Taylor: http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/NT_final-report.pdf (archiviert: http://dpaq.de/xLH5z)

Kurzzusammenfassung von Norbert Freis Sammelband «Karrieren im Zwielicht»: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-2721 (archiviert: http://dpaq.de/DzdTt)

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