Corona-Demo in Berlin: Teilnehmerzahl deutlich geringer als vielfach behauptet

03.08.2020, 17:25 (CEST)

Mit einer Großdemonstration in Berlin haben Gegner der Corona-Auflagen am Wochenende die Schlagzeilen bestimmt. Zur Teilnehmerzahl gibt es vor allem in den Sozialen Netzwerken jedoch falsche und deutlich übertriebene Angaben. An der Demonstration in Berlin am 1. August 2020 sollen demnach Hunderttausende oder sogar über eine Million Menschen teilgenommen haben.

BEWERTUNG: Derart hohe Zahlen sind durch nichts belegt. Die Polizei geht von maximal rund 20 000 Demonstranten aus. Auch Fotos lassen auf eine vergleichbare Größenordnung schließen.

FAKTEN: Am Samstag demonstrierten in Berlin viele Menschen gegen die derzeit geltenden Auflagen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Nach Angaben der Polizei nahmen rund 17 000 Menschen ab Mittag an einem angemeldeten Demonstrationszug auf der Straße «Unter den Linden» teil.

Anschließend fand auf der nahegelegenen Straße des 17. Juni eine Kundgebung unter dem Motto «Tag der Freiheit: Das Ende der Pandemie» statt. Hier sprach die Polizei von gut 20 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Zu der Kundgebung aufgerufen hatte die Initiative «Querdenken 711» aus Stuttgart. Angemeldet waren laut Polizeiangaben rund 10 000 Menschen.

Die Polizei widersprach zudem Behauptungen aus dem Netz, Beamte hätten eine Teilnehmerzahl von 800 000 Menschen bestätigt. «Eine exorbitant höhere Zahl, die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll, können wir nicht bestätigen», heißt es in einem Tweet.

Bei Demonstrationen gibt es immer wieder voneinander abweichende Schätzungen der Teilnehmerzahl. Veranstalter geben meist einen höheren Wert an als die Polizei. Die im Zusammenhang mit der Kundgebung auf der Straße des 17. Juni verbreitete Angabe von 1,3 Millionen Teilnehmern geht unter anderem auf einen Wortbeitrag bei der Veranstaltung zurück. Das belegt das Video eines anwesenden «Tagesspiegel»-Journalisten auf Twitter. Die Veranstalter von «Querdenken 711» verbreiteten die Zahl zudem in einem eigenen Youtube-Video, das einen Tag nach der Kundgebung veröffentlicht und inzwischen von der Plattform entfernt wurde.

In den sozialen Netzwerken kursieren weitere Angaben. So ist mal von «Hunderttausenden», mal von 800 000 Menschen die Rede. Für solche Zahlen und auch den Wert 1,3 Millionen fehlen jedoch glaubhafte Belege. Mehrere dpa-Fotografen machten Bilder vom Demonstrationszug und von der Kundgebung, deren offizieller Beginn für 15.30 Uhr vorgesehen war. Bei Aufnahmen auf Straßenniveau ist schwer abzuschätzen, wie viele Menschen vor Ort waren.

Eine Aufnahme von der Spitze der Siegessäule, also aus erhöhter Position, ermöglicht hingegen eine Schätzung. Sie entstand zwischen 16.00 und 17.00 Uhr. Es ist zu erkennen, dass die Menschenmenge sich, anders als vielfach behauptet, nicht über den gesamten Straßenabschnitt zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule erstreckt. Am oberen und unteren Ende der Demonstration sind deutlich weniger Menschen zu sehen als in der Mitte rund um die Bühne. Eine weitere Menschengruppe scheint sich rund um das Brandenburger Tor aufzuhalten und die Kundgebung noch nicht erreicht zu haben.

Eine Messung mit Google Maps zwischen dem sogenannten «Großen Stern», in dessen Mitte die Siegessäule steht, und der Straßenkreuzung vor dem Brandenburger Tor ergibt eine Distanz von rund 1,7 Kilometern. Die Menschenmenge rund um die mittig auf dem Straßenabschnitt platzierte Bühne erstreckt sich, großzügig geschätzt, über rund einen Kilometer dieser Strecke.

Tools wie «MapChecking» können berechnen, wie viele Menschen Platz auf einer bestimmten Fläche finden. Der Abschnitt, auf dem die Kundgebung stattfand, fasst selbst bei dichtestem Gedränge bei weitem nicht 1,3 Millionen Personen - weder auf dem gesamten Straßenabschnitt zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor, noch auf dem tatsächlich von der Kundgebung genutzten. Zwar dürften auch zwischen den Bäumen am Straßenrand noch Demonstranten stehen, zudem waren vermutlich nicht alle zu jedem Zeitpunkt vor Ort. Dennoch erscheint eine Zahl im niedrigen Zehntausender-Bereich plausibel.

Auf vielen Seiten und Facebook-Accounts werden Vergleiche mit der Loveparade im Jahr 2001 angestellt. Diese fand unter anderem auf dem nun genutzten Straßenabschnitt statt. Ein Luftbild von damals zeigt jedoch eine - verglichen mit der Corona-Demonstration - weitaus größere Menschenmenge. Sie füllt die gesamte Strecke zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor und auch weitere vom «Großen Stern» abgehende Straßen. Seinerzeit gingen die Veranstalter von rund einer Million und die Berliner Polizei von etwa 800 000 Teilnehmern aus.

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Links:

Pressemitteilung der Polizei: https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.968142.php (archiviert: https://archive.vn/HQOvk)

dpa-Vorbericht mit Zahl der angemeldeten Teilnehmer: https://www.maz-online.de/Nachrichten/Berlin/Tausende-zu-Anti-Corona-Demonstration-in-Berlin-erwartet (archiviert: https://archive.vn/w7tj2)

Polizei-Tweet: https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/1289543908972584960 (archiviert: https://archive.vn/ZSMLt)

Twitter-Video mit Angabe 1,3 Millionen in Redebeitrag: https://twitter.com/glr_berlin/status/1289563297298046976 (archiviert: http://dpaq.de/h5Edv)

Gelöschtes Youtube-Video von «Querdenken 711»: https://www.youtube.com/watch?v=bMB5cF23EPI (archivierter Screenshot: https://archive.vn/1z3zo)

dpa-Faktencheck mit Foto: https://www.noz.de/deutschland-welt/faktencheck/artikel/2098961/mehr-als-eine-million-auf-demo-gegen-die-corona-massnahmen (archiviert: https://archive.vn/hnUcu)

Straßenabschnitt auf Google Maps (zum Messen Rechtsklick und «Entfernung messen»): https://www.google.com/maps/@52.5172398,13.363558,1308m/data=!3m1!1e3 (archiviert: https://archive.vn/P0MWL)

«MapChecking»-Tool: http://dpaq.de/RpoLd (archiviert: https://archive.vn/NWSQC)

Bericht über die Loveparade 2001 mit Foto: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/loveparade-loveparade-2001-ging-mit-1-5-millionen-defizit-zu-ende-11275664.html (archiviert: https://archive.vn/6Irvf)

Luftbild der Loveparade 2001: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/loveparade-loveparade-2001-ging-mit-1-5-millionen-defizit-zu-ende-11275664/blick-auf-die-paradestrecke-11278722.html (archiviert: https://archive.vn/ugrTd)

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