Grafik irreführend: Exzess-Schätzungen zur Grippe nicht mit laborbestätigten Fällen vergleichbar

15.07.2020, 21:19 (CEST)

Das Coronavirus soll angeblich dafür verantwortlich sein, dass weniger Menschen an der Grippe sterben. «Covid-19 ist ein Wundervirus!», heißt es in einem Beitrag auf Facebook. Das Virus habe «die Grippe komplett ausgerottet», «die Herzinfarkt-Rate um mehr als 50% reduziert» und «kein einziger Masern-Infekt konnte mehr verzeichnet werden». Dazu wird ein Balkendiagramm mit dem Titel «Deutsche Grippewellen» gezeigt. Für acht ausgewählte Grippesaisons der vergangenen 18 Jahre wird die Anzahl der «Coronatoten» mit der Anzahl der «Grippetoten» verglichen. Während für die vergangenen Saisons zwischen 8000 und 25 100 «Grippetote» und null «Coronatote» angegeben werden, sind für die aktuelle Saison 9000 «Coronatote» und nur 411 «Grippetote» ausgewiesen (https://archive.vn/iDQZG).

BEWERTUNG: Die Grafik ist irreführend, denn sie vermischt die geschätzt Zahl der Todesfälle während einer Grippesaison mit jenen Todesfällen, bei denen das Influenzavirus im Labor bestätigt wurde. Diese Werte sind nicht vergleichbar. Die Grippe ist durch Corona nicht ausgerottet. Auch Masern-Fälle gibt es nach wie vor.

FAKTEN: Die Angabe «Todesopfer» ist in der Grafik mit einem Sternchen versehen. Am unteren Rand der Grafik wird mit diesem Sternchen ergänzt, dass die dargestellten Todeszahlen eine «Exzess-Schätzung des Robert-Koch-Institutes» sind. Was das bedeutet, verrät der «Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland», den das Robert Koch-Institut (RKI) jedes Jahr veröffentlicht. In der Tabelle zu Todesfällen aus dem Grippesaison-Bericht 2018/19 finden sich zwei unterschiedliche Zahlenreihen (S. 47: http://dpaq.de/1QZVi).

Eine davon ist die sogenannte «Exzess-Schätzung» - hier ist für die Saison 2018/19 von 25 100 Todesfällen die Rede. Die Forscher versuchen auf diese Weise, rechnerisch Fälle zu erfassen, bei denen jemand an der Grippe starb, dies aber nicht erkannt wurde. «Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen kann man sich bei Influenza nicht auf die Angaben auf dem Totenschein verlassen», erklärt das RKI (http://dpaq.de/mNCrp). Daher sei es üblich, «die der Influenza zugeschriebene Sterblichkeit» mit Hilfe statistischer Verfahren zu schätzen.

Was heißt das konkret? Dazu das RKI: «Die Zahl der mit Influenza in Zusammenhang stehenden Todesfälle wird - vereinfacht dargestellt - als die Differenz berechnet, die sich ergibt, wenn von der Zahl aller Todesfälle, die während der Influenzawelle auftreten, die Todesfallzahl abgezogen wird, die (aus historischen Daten berechnet) aufgetreten wäre, wenn es in dieser Zeit keine Influenzawelle gegeben hätte. Das Schätz-Ergebnis wird als sogenannte Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität) bezeichnet.» (http://dpaq.de/SVfS2; unter «Wie werden Todesfälle durch Influenza erfasst?»)

Demgegenüber stehen «laborbestätigte Todesfälle». In der ungewöhnlich starken Grippesaison 2017/18 waren das 1674. Dabei handelt es sich um «Todesfälle mit laborbestätigter Influenzainfektion gemäß Infektionsschutzgesetz», die Gesundheitsämter aus ganz Deutschland an das RKI melden müssen. Diese Zahl spielt für die «Exzess-Schätzung» keine Rolle.

Entgegen der Angabe unter der bei Facebook verbreiteten Grafik ist für die Saison 2019/20 jedoch keine «Exzess-Schätzung» zur Grippe angegeben - diese liegt noch gar nicht vor - sondern die Zahl der laborbestätigten Todesfälle. Die Zahl 411 stammt von Anfang April 2020 (http://dpaq.de/75NfV), mittlerweile sind es 525 laborbestätigte Todesfälle (Stand Juni 2020, http://dpaq.de/PbDTS).

Die Gegenüberstellung mit den «Exzess-Schätzungen» früherer Jahre ist also inhaltlich falsch. Außerdem werden im Balkendiagramm jene Grippesaisons der vergangenen 18 Jahre weggelassen, in denen es wenige oder gar keine Toten gab - etwa zwischen 2005 und 2008 (S. 47: http://dpaq.de/1QZVi). So entsteht der falsche Eindruck, seit 2002 sei die Zahl der Grippetoten kontinuierlich gestiegen.

Auch die Behauptung, dass «kein einziger» Masernfall mehr verzeichnet wurde, ist falsch. Im Jahr 2020 wurden dem Robert Koch-Institut bisher 75 Masernfälle gemeldet, wie aus dem aktuellsten «Epidemiologischen Bulletin» hervorgeht (http://dpaq.de/SjzaE; Stand: 8. Juli).

Die Behauptung, wonach das Coronavirus die Herzinfarkt-Rate um mehr als die Hälfte reduziert habe, geht möglicherweise auf die Pressemitteilung einer Datenfirma zurück (http://archive.vn/Okigz). Die auf Gesundheitsdaten spezialisierte Analysefirma meldete im April, dass während der Corona-Pandemie 50 Prozent weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle in den von ihr ausgewerteten Krankenhäusern behandelt worden seien als im Vergleichszeitraum 2019.

Eine gute Nachricht ist das aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie nicht: Die Herzspezialisten warnten ebenfalls im April in einem Brief an die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) davor, dass Patienten mit Herzerkrankungen aus Angst vor einer Corona-Infektion auf die notwendige medizinische Hilfe in einem Krankenhaus verzichteten (http://dpaq.de/g10FD).

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Links:

Facebook-Beitrag mit der falschen Grafik (6. Juli 2020): https://www.facebook.com/photo.php?fbid=2484851771551277&set=a.390354601001015&type=3&theater (archiviert: https://archive.vn/iDQZG)

Zahlen des Robert Koch-Instituts zur Grippesaison 2018/19 (siehe Tabelle 3): https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2018.pdf#page=48 (archiviert: http://dpaq.de/1QZVi)

RKI - Wie Grippetote geschätzt werden (14. März 2011): https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2011/Ausgaben/10_11.pdf?__blob=publicationFile (archiviert: http://dpaq.de/mNCrp)

RKI - Häufig gestellte Fragen und Antworten zur Grippe (30. Januar 2019): https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Influenza/FAQ_Liste.html (archiviert: http://dpaq.de/SVfS2)

RKI Influenza Wochenbericht Kalenderwoche 14/2020 (bis 3. April 2020): https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-14.pdf (archiviert: http://dpaq.de/75NfV)

RKI Influenza Wochenbericht Kalenderwoche 21-24/2020 (bis 12. Juni 2020): https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2019_2020/2020-24.pdf (archiviert: http://dpaq.de/PbDTS)

Masernfälle im Epidemiologischen Bulletin 27/28 2020 des Robert-Koch-Instituts (9. Juli 2020): https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/27_20_WoTab.pdf?__blob=publicationFile (archiviert: http://dpaq.de/SjzaE)

Pressemitteilung «50% weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle während der COVID-19-Pandemie» (24. April 2020): https://www.pressebox.de/pressemitteilung/mediqon-gmbh/Faktenupdate-50-weniger-Herzinfarkte-und-Schlaganfaelle-waehrend-der-COVID-19-Pandemie/boxid/1003076 (archiviert: http://archive.vn/Okigz)

Offener Brief der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie an Bundesforschungsministerin Karliczek: Lebensbedrohliche Herzerkrankungen nicht ignorieren! (8. April 2020): https://dgk.org/daten/schreiben_herzmedizin_an_mdb_karliczek.pdf (archiviert: http://dpaq.de/g10FD)

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