Gründe der Inflation
Lagarde-Aussage über «checks in the mail» falsch zitiert
11.11.2024, 15:45 (CET), letztes Update: 12.11.2024, 10:48 (CET)
Der Kaufkraftverlust in der Eurozone bereitet vielen Menschen existenzielle Sorgen. In den sozialen Medien wird nun spekuliert, ob dieser nicht künstlich herbeigeführt wurde. So wird zum Beispiel ein Video auf Facebook geteilt, in dem behauptet wird, dass Christine Lagarde in einem Interview «die Wahrheit über die Inflation» herausgerutscht ist. Die Chefin der Europäischen Zentralbank soll demnach zugegeben haben, dass die Geldpolitik in Form von «euro checks» zur Inflation geführt hat.
Bewertung
Lagarde sprach von US-Checks, wie die EZB bestätigte. Vor dem Wort «checks» sagte sie «you know», was als «euro» fehlinterpretiert wurde.
Fakten
EZB-Chefin Christine Lagarde war am 24. September 2024 in der US-Nachrichtensatire «Daily Show» des Kabelsenders «Comedy Central» zu Gast und sprach mit Moderator Jon Stewart über Inflation, Weltwirtschaft und künstliche Intelligenz. Laut «Bitcoin Hotel» wird Lagarde von Stewart gefragt, was die Gründe für die Inflation in der Eurozone seien. Die EZB-Chefin antwortet, es gebe drei Komponenten, davon sei die erste die «schlimmste Pandemie aller Zeiten».
Der Moderator unterbricht sie und sagt, dass eigentlich ein deflationärer Effekt aufgrund des Einbruchs der Nachfrage zu erwarten gewesen sei. Lagarde antwortet, dass trotz des «Shutdowns» ein Teil der Nachfrage verschwunden sei und ein Teil geblieben sei, insbesondere als die Menschen Schecks per Post erhalten haben: «Some demand disappeared and some demand stayed, particularly when people continued to receive - you know - checks in the mail.»
Der «Bitcoin Hotel»-Kommentator will jedoch «euro checks» statt «you know - checks» gehört haben. Auf Anfrage der dpa bestätigte die EZB, dass Lagarde ein der «Daily Show» «checks in the mail» sagte. Die EZB-Chefin habe sowohl über die USA als auch die Eurozone gesprochen, mit den Schecks habe sie sich jedoch nicht auf Euro-, sondern US-Dollar-Schecks und somit auf US-Hilfsmaßnahmen bezogen.
In den Vereinigten Staaten handelte es sich dabei oft tatsächlich um Schecks in Papierform und nicht um Bankanweisungen. Dies lässt sich vor dem Hintergrund verstehen, dass die «Daily Show» für ein vorwiegend US-amerikanisches Publikum produziert wird.
Gründe für die Inflation
Dass Lagarde staatliche Hilfsprogramme als Grund für die Geldentwertung genannt habe, bestätigte die EZB nicht. Die Präsidentin habe die Analysen der EZB zitiert, laut der die hohe Inflation durch «im Wesentlichen eine Mischung aus dem Energieschock, welcher durch den ungerechtfertigten Krieg Russlands in der Ukraine verursacht wurde, einer Erholung der Nachfrage (Dienstleistungen) sowie einer anhaltenden Unterbrechung der Lieferketten nach der Pandemie» ausgelöst wurde, hieß es in einer Stellungnahme unter Verweis auf verschiedene Publikationen der EZB (Blog-Artikel des EZB-Chefvolkswirts Philip Lane von März 2024, Rede von Lagarde am 1. Juli 2024, Working Paper zu Inflationstreibern von 2023).
In einem Artikel des «Economic Bulletin» der Europäischen Zentralbank wird auf die Unterschiede bei der Erholung in der Eurozone und den USA und die Rolle der staatlichen Stimuli eingegangen. In den USA habe eine sehr starke finanzpolitische Unterstützung, die sich vor allem an Haushalte richtete, zu einer hohen Nachfrage an Konsumgütern geführt.
Auch im Euroraum hat es im Jahr 2020 demnach «erhebliche diskretionäre fiskalische Unterstützungsmaßnahmen» gegeben, jedoch in geringerem Ausmaß und mit einer stärkeren Ausrichtung auf Arbeitsplatzerhaltungsprogramme. Dies führte 2020 zu einem viel stärkeren Rückgang des privaten Konsums im Euroraum als in den USA und zu einem schwächeren Aufschwung im Jahr 2021.
Ökonom sieht Pandemie und Ukraine-Krieg als Preistreiber
Sebastian Koch, der am österreichischen Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien zu Makroökonomie und Konjunktur forscht, sieht im Wesentlichen zwei große Auslöser der Inflationskrise: die Pandemie und den Krieg in der Ukraine, wie er auf dpa-Anfrage schrieb. Nachdem die Ölpreise zu Beginn der Pandemie eingebrochen waren, kehrten sie 2021 wieder auf ihr Ausgangsniveau zurück, was zu einem ersten Anstieg der Inflationsraten führte. Lieferketten wurden stark in Mitleidenschaft gezogen, so der Makroökonom.
Ab Mitte 2021 kam laut Koch hinzu, dass die unter Russlands Einfluss stehenden Gasspeicherstätten nicht wie üblich über den Sommer wieder befüllt wurden, was ab Herbst 2021 zu niedrigeren Gasfüllständen führte und die Preise für Gas bereits im Vorfeld des Krieges in der Ukraine steigen ließ. Mit der russischen Invasion 2022 seien dann die Energie- und Lebensmittelpreise stark gestiegen.
Durch die Nähe und Abhängigkeit zu Russland sei die Geldentwertung in der Eurozone stärker als in den USA ausgefallen. In weiterer Folge kam es zu sogenannten Zweit- und Drittrundeneffekte etwa aufgrund von Lohnanpassungen oder Indexierungen von Mieten oder anderen Verträgen. Die EZB reagierte mit Zinserhöhungen, um die ökonomische Aktivität zu dämpfen und damit die Teuerungsraten zu senken, so Koch.
Finanzhilfen seitens der europäischen Regierungen, die nicht auf die Bedürftigkeit der Empfänger abgestimmt waren, sondern breiten Bevölkerungsschichten zugutekamen, verzögerten ihm zufolge einen schnelleren Rückgang der Inflation. Die Behauptung von «Bitcoin Hotel», die staatlichen Corona-Hilfsprogramme und nicht externe Faktoren hätten zur Inflation geführt, lasse sich jedoch dadurch nicht ableiten.
(Stand: 11.11.2024)
Berichtigung
Im Faktenteil wurde an einer Stelle der Name Lagarde berichtigt.
Links
Video von «Bitcoin Hotel» auf Youtube (archiviert)
Kabelsender Comedy Central (archiviert)
Vollständiges «The Daily Show»-Interview (archiviert)
Blog-Artikel von EZB-Chefvolkswirt Philip Lane (archiviert)
Transkript von Lagarde-Rede vom 1. Juli 2024 (archiviert)
Arbeitspapier der Europäischen Zentralbank (archiviert)
Über dpa-Faktenchecks
Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.
Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.
Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an factcheck-oesterreich@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.
Schon gewusst?
Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.