Falschbehauptungen zur Bilanz von Kanzler Nehammer

Am 29. September sind die Österreicherinnen und Österreicher dazu aufgerufen, einen neuen Nationalrat zu wählen. Wenige Wochen vorher wird das Tiktok-Posting eines Users verbreitet, in dem mit der bisherigen Amtszeit von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) abgerechnet wird. Angeblich habe Österreich in den vergangenen drei Jahren die höchste Inflationsrate in der EU, und die Unter- und Mittelschicht sei in diesem Zeitraum «in die Armut getrieben» worden. Nehammer wird dazu mit dem Satz zitiert: «Ich löse Probleme!»

Bewertung

Die Behauptungen haben nur wenig mit der Realität zu tun. Gesichert falsch ist, dass Österreich in Nehammers Amtszeit die höchste Inflationsrate in der EU hatte. Die Armutsgefährdung in Österreich liegt seit vielen Jahren auf einem konstanten Niveau.

Fakten

Das Zitat des Kanzlers, auf den sich das Posting bezieht, stammt vom Neustifter Kirtag in Wien-Döbling Ende August 2024. Nehammer sagte in einem Interview der Tageszeitung «Heute»: «Ich lebe nicht vom Problem, ich löse es.» Das Posting gibt diese Aussage sinngemäß wieder. Die Behauptungen zur Bilanz Nehammers sind jedoch teils falsch, teils schwer belegbar.

Inflationsrate war nie EU-Spitze

Österreichs Inflationsrate (die Begriffe Teuerungsrate und Inflationsrate werden im Posting als zwei Punkte angeführt, üblicherweise aber synonym verwendet) lag in den vergangenen Jahren aufgrund der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine deutlich höher als in den Jahren zuvor. Der starke Anstieg war allerdings kein rein österreichisches Phänomen.

Im aktuellen EU-Vergleich liegt Österreich im Jahresabstand zu Juli 2023 mit einer Inflationsrate von 2,9 Prozent auf dem zehnten Platz. Das ist zwar leicht über dem EU-Durchschnitt, aber weit vom negativen Spitzenreiter Rumänien entfernt, dessen Teuerungsrate doppelt so hoch war. Seit Nehammers Amtsantritt im Dezember 2021 lag Österreichs jährliche Inflationsrate nie über der aller anderen EU-Mitgliedstaaten.

Armutsgefährdung in Österreich relativ stabil

Auch dass in der Zeit von Nehammers Kanzlerschaft die komplette «Unter- und Mittelschicht» in die Armut abgerutscht sein sollen, ist so nicht belegbar. Zwar ist im Jahr 2023 die Anzahl der Menschen in absoluter Armutslage gewachsen. Allerdings stieg die Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung in Österreich von 2021 bis 2023 laut Daten der Statistik Austria nur um 0,2 Prozentpunkte an. Auch den Zuwachs von 2022 auf 2023 stufte die Organisation Die Armutskonferenz als nicht signifikant ein.

Zudem sind die Begriffe Unterschicht und Mittelschicht nicht klar definierbar. Als armutsgefährdet gelten in Österreich laut Sozialbericht 2024 des Sozialministeriums Menschen, die (in einem Ein-Personen-Haushalt) pro Monat weniger als 1.392 Euro aus allen Einkommen netto zur Verfügung haben. In Medien werden diese Menschen auch als Unterschicht bezeichnet und Menschen, deren Einkommen darüber (bis rund 50.000 Euro im Jahr) liegt, als Mittelschicht.

Vage Einschätzung zu Gesundheitssystem

Schwierig zu überprüfen ist die Behauptung, das Gesundheitssystem sei «desolat wie nie zuvor» - zumal hier zahlreiche Parameter heranzuziehen wären. Eine beispielhafte Analyse zeigt allerdings, dass auch diese Aussage mit Vorsicht zu genießen ist. Belegbar sind etwa die Zahlen zu Krankenanstalten und Krankenhausbetten, die keine Auffälligkeiten seit Nehammers Amtsantritt aufweisen.

Laut dem «State of Health in the EU»-Bericht der EU-Kommission von 2023 gibt es in Österreich eine «hohe Ärztedichte», aber «regionale Ungleichgewichte und nur wenige Allgemeinmediziner». Die Gesundheitsausgaben für die stationäre Versorgung liegen demnach weiterhin über dem EU-Durchschnitt, der Zugang zur Gesundheitsversorgung wird als «gut» bezeichnet.

(Stand: 5.9.2024)