Sozialstaat

Angebliche Verordnung aus Weimarer Republik ist nicht belegbar

31.10.2023, 15:30 (CET)

Sozialleistungen, die viele Länder Flüchtlingen anbieten, sind Kritikern ein Dorn im Auge. Aber manch vermeintlich historisches Argument dagegen ist bei genauer Betrachtung gar keines.

Flüchtlinge werden von vielen Ländern bei ihrer Ankunft mit Hilfeleistungen unterstützt. Früher sei man aber anders mit schutzsuchenden Menschen umgegangen, lautet eine virale Behauptung. Dies soll eine angebliche Verordnung der Weimarer Republik beweisen, die als Sharepic geteilt wird. «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!» steht dort, weshalb alle «alle arbeitsfähigen Flüchtlinge» zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet worden seien.

Bewertung

Es handelt sich offenbar um eine Fälschung. Eine Verordnung mit diesem Text ist historisch nicht belegbar und weist einige Ungereimtheiten auf.

Fakten

Eine «Verordnung über die Fürsorgepflicht» gab es in der Weimarer Republik, also der ersten Demokratie in Deutschland, tatsächlich. Sie stammt aus dem Jahr 1924 und enthält einen Paragrafen 19. Dieser beschreibt jedoch nicht die behauptete Maßnahme gegen arbeitslose Flüchtlinge. Das Original lautet: «Die Unterstützung Arbeitsfähiger kann in geeigneten Fällen durch Anweisung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art gewährt oder von der Leistung solcher Arbeit abhängig gemacht werden [...].» Die Stelle bezieht sich auf alle Menschen und Gruppen, die damals Fürsorge bezogen.

Auch in der Weimarer Reichsverfassung findet sich keine Passage, die zu dem Ausschnitt passt. Selbiges gilt für die «Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge» sowie die Ausführungsverordnung zur Fürsorge des damals größten deutschen Landes Preußen.

Unbestritten ist, dass Migration in der Zeit der Weimarer Republik ein großes Thema war und auch viele gesellschaftliche und politische Debatten mit sich brachte. Nachdem Deutschland im Ersten Weltkrieg große Gebiete verloren hatte, wurden viele Menschen aus diesen Regionen vertrieben und migrierten nach Deutschland. Man bezeichnete sie damals als «Heimkehrer».

Zwischenüberschrift hat Ursprung in der Bibel

Diese Heimkehrer werden auch in der Fürsorgepflichtverordnung als Anspruchsberechtigte erwähnt. In Paragraf 12 ist die Rede vom «freiwilligen oder erzwungenen Übertritt aus dem Ausland» von «Deutschen, staatslosen ehemaligen Deutschen oder staatslosen Personen deutscher Abkunft». Ausländer werden in den Reichsgrundsätzen von 1924 ebenfalls als ein Personenkreis genannt, der Fürsorge erhalten kann. Allerdings wurden sie damals nicht als «Flüchtlinge» bezeichnet. Die rechtliche Definition dieses Begriffes wurde erst mit der Genfer Flüchtlingskonvention am 28. Juli 1951 festgelegt.

Die angeführte Aussage «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!» ist für einen juristischen Text äußerst ungewöhnlich. Derartige Sprüche finden sich normalerweise nicht in Gesetzestexten und Verordnungen, auch nicht zur damaligen Zeit. Als Ursprung für dieses Zitat diente offenbar die Bibel, da es im 2. Paulusbrief an die Thessalonicher heißt: «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.»

Paragraf 19 der Verordnung sah Arbeit als eine mögliche Bedingung für den Erhalt von Fürsorge vor. Nach Angaben von Christian Rolfs, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität zu Köln, war ein Grund für diese Einschränkung, dass bis 1924 weitere Fürsorgesysteme für andere Gruppen eingeführt worden waren - etwa für Kriegsopfer, die dann nicht unter die Fürsorgepflichtverordnung fielen.

Unklar, ob der Text eine historische Herkunft hat

Die Umsetzung der Verordnung lag nicht bei der Reichsregierung. «Die Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Maß der gewährten Fürsorge waren nicht reichseinheitlich geregelt, sondern Sache der Länder», sagte Rolfs der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Deutsche Länder wie das damalige Preußen sind als Verwaltungseinheiten mit den heutigen Bundesländern vergleichbar.

Worum es sich bei dem nun online kursierenden Text genau handelt, ist unklar. Möglich ist, dass Teile davon eine regionale oder lokale Regelung waren. Denkbar ist auch, dass es sich um einem journalistischen oder politischen Text handelt, der Regeln der Fürsorge und das Thema Flüchtlinge verknüpfte - mit einem abgewandelten Bibelzitat als Zusammenfassung.

(Stand: 31.10.2023)

Links

Verordnung über die Fürsorgepflicht von 1924 im Reichsgesetzblatt (archiviert)

Paragraf 19 der Verordnung (archiviert)

Weimarer Reichsverfassung (archiviert)

Reichsgrundsätze zur Fürsorge von 1924 (archiviert)

Gesetzessammlung mit Ausführungsverordnung des Landes Preußen von 1924 (kostenpflichtig) (archiviert)

Hintergrund zur Weimarer Republik (archiviert)

Bibelstelle 2. Thessalonicher 3,10 (archiviert)

Informationen zu Vertriebenen in der Weimarer Republik (archiviert)

UNHCR über Genfer Flüchtlingskonvention (archiviert)

Paragraf 12 der Verordnung (archiviert)

Posting auf Facebook (archiviert)

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