Falschzitat
Göring hat sich bei den Nürnberger Prozessen nicht in diesem Wortlaut geäußert
20.10.2023, 13:15 (CEST)
Ein Zitat des als engsten Vertrauten von Adolf Hitler geltenden Hermann Göring geistert durch das Netz. Bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher soll er auf die Frage, wie man das Deutsche Volk dazu gebracht habe, «das alles zu akzeptieren» gesagt haben (Rechtschreibung und Zeichensetzung wie im Original): «Es war sehr einfach, es hat nichts mit Nationalsozialismus zu tun, es hat etwas mit menschlicher Natur zu tun. Man kann es in einem Nazi sozialistischen, kommunistischen Regime, in einer Monarchie und sogar in einer Demokratie tun. Das Einzige, was getan werden muss, um Menschen zu versklaven, ist, ihnen Angst zu machen. Wenn du es schaffst, einen Weg zu finden, um Menschen Angst zu machen, kannst du sie zu allem bringen, was du willst.» Ist an diesem angeblichen Zitat, das in leicht abgewandelten Versionen kursiert, etwas dran?
Bewertung
Eine derartige Äußerung Görings bei den Nürnberger Prozessen ist nicht belegbar. Allerdings hat er sich in einem Gespräch außerhalb der Gerichtsverhandlung in ähnlicher Weise geäußert, woraus vermutlich dieses Falschzitat gemacht wurde.
Fakten
Es lässt sich einfach überprüfen, ob Göring diese Aussage beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess in den Jahren 1945 und 1946 getätigt hat, da davon detaillierte Aufzeichnungen vorliegen, unter anderem in Form von Wortprotokollen aller 218 Verhandlungstage. Göring, der 1922 in die NSDAP eintrat und während der NS-Diktatur unter anderem Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichsmarschall war, musste sich dort gemeinsam mit 20 anderen hochrangigen Nationalsozialisten vor Gericht verantworten.
In den Wortprotokollen seiner Vernehmung ist das angebliche Zitat nicht zu finden. Allerdings wurde Göring während seiner Haft in diversen Interviews befragt. Hier findet sich eine ähnliche Aussage, die als Grundlage für das Falschzitat gedient haben könnte.
IfZ ist ein derartiges Zitat nicht bekannt
Die Deutsche Presse-Agentur hat beim Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München nach der vermeintlichen Aussage gefragt. Ein derartiges Göring-Zitat ist dort keinem der angefragten NS-Experten bekannt. Es sei «nicht nachvollziehbar, wo Göring diese Aussage getroffen haben soll», sagte eine Sprecherin des IfZ. Möglicherweise sei ein Zitat aus dem Buch «Nürnberger Tagebuch» des amerikanischen Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert «sinnentstellend weiterverwendet» worden.
In diesem Fall sei das Zitat nicht nur «völlig falsch wiedergegeben» worden, es lasse sich auch nicht mit dem üblichen Duktus oder Weltbild Görings in Verbindung bringen. Falls mit der Aussage gemeint sei, dass die Nationalsozialisten durch Angst das «deutsche Volk» zu «Sklaven» machen wollten, so passe dies überhaupt nicht zu der üblichen «Herrenrassen»-Ideologie, die ja die vermeintliche «Höherwertigkeit» der Deutschen beschreiben sollte. «Es ist deshalb kaum anzunehmen, dass das Zitat tatsächlich von Göring stammt», so die IfZ-Experten.
Ursprung in Interview im Gefängnis zu finden
Im 1947 veröffentlichten Buch «Nuremburg Diary» des Gefängnispsychologen Gilbert erzählt dieser von einem Gespräch mit Göring am 18. April 1946. Es handelt sich um eine Begegnung in der Osterpause der Nürnberger Prozesse, die vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946 stattfanden. Göring hatte kurz zuvor, im März 1946, ausgesagt. Er wurde später zum Tode verurteilt, beging im Oktober 1946 aber kurz vor der Vollstreckung Suizid.
Gilbert habe in dem Gespräch auf Görings Bemerkung reagiert, wonach einfache Bürger immer von den Regierenden manipuliert werden könnten, um Kriege zu unterstützen, und eingewendet, einfache Bürger seien sicher nicht dankbar für Krieg und Zerstörung. Daraufhin habe Göring gesagt: «Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste, was er dabei herausholen kann, ist, dass er mit heilen Knochen zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schliesslich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.»
Gilbert berichtet weiter, dass er eingeworfen habe, dass in einer Demokratie die Bürger immerhin über die Regierenden entscheiden könnten. In Amerika könne nur der Kongress einen Krieg erklären. Daraufhin habe Göring gesagt: «Das ist alles schön und gut. Aber ob mit oder ohne Stimmrecht, das Volk kann immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.»
Göring hat laut Gilbert also darüber gesprochen, das eigene Volk zu überzeugen, dass es angegriffen werde, und den Pazifisten einen Mangel an Patriotismus vorzuwerfen. Im viralen Falschzitat geht es darum, Angst zu instrumentalisieren, um «Menschen zu versklaven». Der Vorwurf des mangelnden Patriotismus kommt darin gar nicht vor.
(Stand 20.10.2023)
Links
Memorium Nürnberger Prozesse (archiviert)
Biografische Angaben des DHM zu Göring (archiviert)
Suche des Zitats in den Wortprotokollen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses (archiviert)
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