Studie fehlinterpretiert

Festlandeis in der Antarktis schmilzt mit hoher Geschwindigkeit

23.6.2023, 18:09 (CEST)

Klima-Skeptiker glauben entgegen zahlreicher Expertenaussagen, Belege dafür gefunden zu haben, dass das antarktische Eis gar nicht schmilzt, sondern wächst. Sie haben aber nur eine Studie falsch interpretiert.

Hat das antarktische Eis entgegen zahlreicher Medienberichte eigentlich zugenommen? Das behauptet aktuell ein Facebook-Posting. Demnach sei das Eis seit dem Jahr 2009 um 5 305 Quadratkilometer gewachsen und habe 661 Gigatonnen Eis gewonnen. Ein Blog-Artikel suggeriert, dass aufgrund der zunehmenden Eismassen Warnungen vor der Klimakrise übertrieben seien.

Bewertung:

Die Zahlen beziehen sich auf eine Studie, in der es nicht um das gesamte Eis in der Antarktis geht, sondern nur um das Schelfeis. Laut einer der Studienautorinnen liefert die Studie lediglich «eine kleine Momentaufnahme» und trifft keine Schlussfolgerungen über den Klimawandel. Insgesamt gingen in der Antarktis in den letzten Jahren mehrere tausend Gigatonnen an Festlandeis verloren.

Fakten:

Die Zahlen stammen aus dem wissenschaftlichen Artikel «Change in Antarctic ice shelf area from 2009 to 2019», der im Mai 2023 veröffentlicht wurde. Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, geht es in der Studie um Schelfeis.

In der Antarktis kommen mehrere Arten von Eis vor. Neben dem in der Studie behandelten Schelfeis, einem schwimmenden Eiskörper, gibt es auch den Eisschild, welcher auf festem Grund aufsitzt. Das Schelfeis umgibt das festsitzende Eis in weiten Teilen der Antarktis. Das Abschmilzen von Schelfeis hat im Gegensatz zum Eisschild kaum Einfluss auf den Meeresspiegel.

In vielen Berichten (hier, hier) über schmelzendes Eis in der Antarktis geht es daher um die fest aufsitzende Eismasse. Nach Angaben des Glaziologen Helmut Rott von der Universität Innsbruck gab es in der Antarktis von 2009 bis 2019 einen Massenverlust von etwa 2 200 Gigatonnen Eis, was einem Meeresspiegelanstieg von sechs Millimeter entsprochen habe.

Der Experte beschreibt den Vorgang folgendermaßen: Das Eis wird vom Inland über Eisströme in Richtung Schelfeis transportiert. Für den Massenverlust der Antarktis und den Meeresspiegelanstieg sei der Transport an Eismasse über die Grenze zwischen fest aufsitzendem Eis und Schelfeis entscheidend, so Rott. Von dort fließe es zur Schelfeiskante, wo es in unregelmäßigen Zeitabständen in Form von Tafeleisbergen abbreche. Das wird in der Fachsprache auch kalben genannt.

«Seit 2005 gab es eine wesentliche Erhöhung der Fließgeschwindigkeit zahlreicher Eisströme, und damit auch des Verlusts an Antarktischer Eismasse», so der Glaziologe. «Große Tafeleisberge kalben in unregelmäßigen Zeitanständen. So wurde z.B. der sogenannte "Gewinn" an Schelfeisfläche von 2009 bis 2019 (…) bereits innerhalb der nächsten zwei Jahre durch das Kalben von nur drei Eisbergen (…) mehr als zunichte gemacht».

In der Studie steht zwar tatsächlich, dass die Schelfeisfläche der Antarktis insgesamt um 5 305 Quadratkilometer gewachsen sei. Diese Vergrößerung ist laut Rott aber «unbedeutend» und spiegle «keinerlei längerfristigen Trend» wider: «Nimmt man den Zeitraum 2009 bis 2019, so ist die Änderung der Schelfeisfläche nahe Null. Die gesamte Schelfeisfläche der Antarktis beträgt 1,5 Millionen Quadratkilometer. Eine vorübergehende Änderung von 5 000 Quadratkilometern ist also viel Lärm um nichts. Zufällige Änderungen von einigen tausend Quadratkilometern pro Jahr (Zuwachs bzw. Abnahme) sind die Regel», so der Glaziologe.

Eine der Studienautorinnen, Julia Andreasen, sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auf Anfrage, dass in dem Artikel keine Schlussfolgerungen über den Klimawandel gezogen werden würden. Der Artikel liefere «eine kleine Momentaufnahme, wie sich die Flächen des Schelfeises auf Basis von Satellitenbildern entwickeln». Zur Gesamtveränderung der Eismasse in der Antarktis würden keine Aussagen getätigt.

Auch Andreasen beschreibt, dass stabile Schelfeise einen kontinuierlichen Prozess durchlaufen, bei dem sich an der Oberfläche Eis ansammelt, dieses über die Schelfeiskante hinabfließt und schließlich kalbt. Das sei kein «alleiniger Indikator für den Klimawandel». Unregelmäßige Kalbungsereignisse könnten aber schon mit einem Anstieg der Temperatur oder einer zunehmenden Ausdünnung des Schelfeises zusammenhängen, sagt die Studienautorin.

Zur Einordnung verwies sie zudem auf zwei Studien im renommierten Fachjournal «Nature», die das schrumpfende Eisschild in der Antarktis und in Grönland zum Thema haben. Demnach sind in der Antarktis zwischen den Jahren 1992 und 2017 2 720 ± 1 390 Gigatonnen Eis verloren gegangen, was einem Anstieg des mittleren Meeresspiegels um 7,6 ± 3,9 Millimetern entsprochen habe. In Grönland seien fast im selben Zeitraum 3 902 ± 342 Gigatonnen Eis verloren gegangen, was den mittleren Meeresspiegel um 10,8 ± 0,9 Millimetern habe ansteigen lassen.

Die Gletscherschmelze und der Anstieg des Meeresspiegels haben gravierende Folgen für Menschen, Tiere, die Natur und die Infrastruktur rund um Küsten. Unter anderem steigt Gefahr von Fluten und es kommt zu einer weiteren Abnahme der Süßwasserbestände. Klimaschutz ist also unabdingbar.

Stand: 23.6.2023

Links:

Wissenschaftlicher Artikel «Change in Antarctic ice shelf area from 2009 to 2019» (Mai 2023) (archiviert)

Eis-Arten in der Antarktis (archiviert)

Washington Post-Artikel über Ice loss (April 2023) (archiviert)

NASA-Artikel über Ice Loss (März 2020) (archiviert)

Über Helmut Rott auf der Webseite des «Austrian Polar Research Institute» (archiviert)

Über Helmut Rott von der Uni Innsbruck (archiviert)

Artikel zu Antarktis im Fachjournal «Nature» (archiviert)

Artikel zu Grönland im Fachjournal «Nature» (archiviert)

EU-Kommission u.a. über Folgen von Gletscherschmelze und Meeresspiegelanstieg (archiviert)

Facebook-Posting (archiviert)

Blog-Artikel von «unzensuriert» (archiviert)

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an factcheck-oesterreich@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.