Zwangsbehandlungen legal

Nürnberger Kodex gilt nur für medizinische Experimente

06.09.2022, 14:13 (CEST)

Der Nürnberger Kodex ist ein beliebtes Schlagwort, um unerwünschte medizinische Behandlungen in Verruf zu ziehen. Tatsächlich wurde er aber nur für Experimente am Menschen formuliert.

Aktuell macht ein Sharepic die Runde, das den NS-Arzt Karl Brandt zeigt, der im Rahmen der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt wurde. Daneben ist zu lesen: «Der Nürnberger Kodex wurde eingeführt, damit Menschen nie wieder zu medizinischen Behandlungen GEZWUNGEN oder GENÖTIGT werden.»

Bewertung

Der Nürnberger Kodex enthält eine Reihe von ethischen Richtlinien für medizinische Experimente an Menschen. Zwangsbehandlungen hingegen sind unter bestimmten Voraussetzungen auch heute noch zugelassen, etwa in der Psychiatrie.

Fakten

Der Nürnberger Kodex von 1947 war Teil der Urteilsbegründung des Nürnberger Ärzteprozesses, darin wurden ethische Richtlinien für medizinische Experimente an Menschen definiert. Durch den Kodex sollten menschenfeindliche Experimente verhindert werden, wie sie in NS-Konzentrationslagern durchgeführt worden waren. Er ist allerdings nur bedingt rechtsverbindlich.

Zwangsbehandlungen sind in Österreich vom Strafvollzugsgesetz gedeckt. Dort heißt es in Paragraph 69: «Verweigert ein Strafgefangener trotz Belehrung die Mitwirkung an einer nach den Umständen des Falles unbedingt erforderlichen ärztlichen Untersuchung oder Heilbehandlung, so ist er diesen Maßnahmen zwangsweise zu unterwerfen, soweit dies nicht mit Lebensgefahr verbunden und ihm auch sonst zumutbar ist.»

Ist keine Gefahr im Verzug, muss demnach zuerst eine Genehmigung vom Justizministerium eingeholt werden. In jedem Fall darf die Behandlung keine schwere Körperverletzung nach sich ziehen oder damit erzwungen werden.

In der Psychiatrie ist laut Paragraph 37 des Unterbringungsgesetzes keine Zustimmung erforderlich, «wenn mit der damit einhergehenden Verzögerung eine Gefährdung des Lebens, eine schwere Schädigung der Gesundheit oder starke Schmerzen des Kranken verbunden wären. Über die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Behandlung entscheidet der Abteilungsleiter.» Patienten, die nicht entscheidungsfähig sind und keine gesetzliche Vertretung haben, können auch bei «einfachen Heilbehandlungen» auch gegen ihren Willen behandelt werden.

Der Nürnberger Kodex entstand laut Philipp Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, «um über Ländergrenzen hinweg eine ärztliche Berufsordnung zu formulieren, die es Ärztinnen und Ärzten auch unter den Bedingungen von Diktaturen verbieten sollte, Experimente ohne vorherige Aufklärung und Einwilligung am Menschen durchzuführen.»

Laut der britischen Philosophin Onora O’Neill «sind Kodizes mit unbeschränkter Reichweite meistens nur schwer durchzusetzen; es fehlen die Institutionen, die für ihre Befolgung sorgen könnten». Sie nennt als Beispiel dafür auch den Nürnberger Kodex. Seine fehlende Rechtsverbindlichkeit ist für Osten jedoch nicht als Schwäche zu sehen: «Die Idee dahinter ist es ja gerade, über staatliche Regelungen hinweg, ethische Standards zu setzen.»

(Stand: 5.9.2022)

Links

Posting bei Facebook (archiviert)

Täterbiographie Karl Brandt (archiviert)

Text des Nürnberger Kodex (archiviert)

Strafvollzugsgesetz (archiviert)

Unterbringungsgesetz (archiviert)

Weiterführende Informationen zum UbG (archiviert)

Artikel von Onora O’Neill (archiviert)

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