Zitate ohne Zusammenhang

Lauterbach bezog sich auf Klimakrise, Brandt auf Notstandsgesetze

08.07.2022, 14:45 (CEST)

Zitate wirken völlig anders, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt und neu kombiniert. So haben die Sätze über Ausnahmezustand und Notstand zweier SPD-Politiker eigentlich nichts miteinander zu tun.

Es ist ein Satz, der für manche Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen wie eine Drohung wirken könnte: Eine Aussage des deutschen Gesundheitsministers Karl Lauterbach wird derzeit in einem Sharepic (archiviert) einem Zitat des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt gegenüber gestellt. Lauterbach hätte gesagt: «Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein.» Brandt hatte davor gewarnt, mit «dem Notstand» zu spielen. Wiedersprechen sich die Aussagen der beiden Sozialdemokraten?

Bewertung

Die Politiker sprachen in ihren Zitaten über gänzlich verschiedene Sachverhalte. Lauterbach bezog sich auf Folgen der Klimakrise, Brandts Aussage hingegen betrifft einen rechtlich definierten Notstand im Verteidigungsfall.

Fakten

Die zitierten Aussagen sind in beiden Fällen echt. Der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach äußerte sich bei einer Buchpremiere im März 2022 in Berlin. Es handelte sich um eine Antwort auf einen Einwurf der Ökonomin Claudia Kemfert. Lauterbach sprach dabei mehr als die im Sharepic erwähnten Zeilen, wobei auch ein klarer Bezug zur Klimakrise deutlich wird.

Kemfert äußert sich hinsichtlich der Corona-Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukraine-Krieges folgendermaßen: «Es gibt kein Zurück zur Normalität mehr. Das ist unsere neue Normalität. Und diese neue Normalität müssen wir leben und mit der müssen wir auch umgehen.»

Auf diese Wortmeldung reagiert Lauterbach folgendermaßen: «Ich stimme zu: Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein. Der Klimawandel wird zwangsläufig mehr Pandemien bringen. Mehr Pandemien werden die Wirtschaft belasten, also unterbrechen. Wir kommen in eine Situation des globalen Wassermangels hinein und Kriege für Wasser sind fast unvermeidbar. Es sind riesige Wanderungen zu erwarten. Früher hat man gedacht, es wird Krieg um Öl geben. Die viel größere Wahrscheinlichkeit ist Krieg um Wasser.»

Hier zeigt sich auch der Unterschied zu dem Brandt-Zitat. Lauterbach spricht hier von keinem politisch oder rechtlich definierten Ausnahmezustand. Durch den Klimawandel käme es aber zu katastrophalen Ereignissen, die einem stetigen empfundenen Ausnahmezustand gleichen könnten.

Brandts zitierte Aussage wurde in einem anderen Kontext geäußert, nämlich hinsichtlich von der Regierung geplanten Änderungen des Grundgesetzes, die unter dem Begriff «Notstandsgesetze» diskutiert wurden. Brandt sagte die Worte einem damaligen Medienbericht zufolge tatsächlich so, wie sie im Sharepic stehen: «Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.»

Den Gesetzesänderungen waren mehrere Jahre politischer und gesellschaftlicher Debatte vorausgegangen. Konkret ging um Befugnisse, welche die Regierung und die Sicherheitskräfte bei einem ausgerufenen «Verteidigungsfall» oder «Spannungsfall» erhielten.

Der Verteidigungsfall kann aktiviert werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland «mit Waffengewalt angegriffen» wird. Der Spannungsfall ist weniger klar definiert. Nach Definition des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages stellt er eine Situation dar, in der die außenpolitische Lage einen solchen Angriff sehr wahrscheinlich macht.

Bundesregierung, Bundeswehr und Sicherheitskräfte würden in diesen beiden Fällen weitreichende Befugnisse im Inneren bekommen. Geregelt wird dies hauptsächlich in Artikel 87a und Artikel 91 des Grundgesetzes, wobei der letztere Artikel auch als Rahmen für den sogenannten «inneren Notstand» fungiert. Dieser tritt ein, wenn der Bund oder einzelne Bundesländer die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht mehr garantieren können.

Diese möglichen Grundrechtseinschränkungen in Krisensituationen stießen damals auf große Kritik, unter anderem von der damaligen Studentenbewegung. Brandt sprach sich damals gegen einen Missbrauch der «Notstandsgesetze» aus. Diese traten im Sommer 1968 in Kraft, wurden allerdings noch nie verwendet. Auch in der Corona-Pandemie kamen sie nicht zum Einsatz.

(Stand: 8.7.2022)

Links

RBB-Podiumsdiskussion mit Kemfert und Lauterbach (13.3.2022) (archiviert)

Deutschlandfunk-Bericht über Zusammenhang von Klima und Pandemien (12.5.2022) (archiviert)

«Spiegel»-Bericht mit Brandt-Zitat (2.6.1968) (archiviert)

Deutscher Bundestag über «Notstandsgesetze» von 1968 (23.5.2018) (archiviert)

Deutscher Bundestag zum rechtlichen Rahmen des Verteidigungsfalls (archiviert)

Artikel 87a des Grundgesetzes (archiviert)

Artikel 91 des Grundgesetzes (archiviert)

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags zu Verteidigunsfall, Spannungsfall und Notstand (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

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