Laut Charité handelt es sich um Internetumfrage – Sagt nichts über Gesamtbevölkerung aus

17.5.2022, 17:26 (CEST)

Erste Ergebnisse einer angeblichen Studie der Berliner Universitätsklinik Charité zu schweren Nebenwirkungen der Corona-Impfung gingen in den letzten Wochen viral. Mehrere Online-Medien griffen das Thema auf. In einem Artikel heißt es etwa, dass einer «langfristigen Beobachtungsstudie» unter der Leitung von Professor Harald Matthes zufolge die Zahl «schwerer Komplikationen» nach Corona-Impfungen «womöglich 40-mal (!) höher» sei als gedacht (archiviert). Acht von 1 000 Patienten hätten schwere Nebenwirkungen. In einem weiteren Artikel steht, dass sich diese Zahl mit Daten aus anderen Ländern decken würde und dass auch die Impfstoffhersteller zu ähnlichen Werten gekommen seien (archiviert). Gemäß den Ergebnissen der Charité dürfe es auch in Österreich viel höhere Zahlen geben – nämlich «etwa bis zu 150 000 Geschädigte», wird geschlussfolgert.

Bewertung

Die Charité stellt klar, dass es sich nicht um die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie handelt, sondern «um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage». Harald Matthes hat die von ihm erhobenen Daten bisher nicht veröffentlicht. Für die angebliche Untererfassung der Nebenwirkungen gibt es keinen Beleg.

Fakten

Mit seiner sogenannten ImpfSurv-Studie an der Charité begleiteten Harald Matthes und sein Team der Projektbeschreibung zufolge seit Mitte April 2021 Menschen ein Jahr lang nach ihrer Corona-Impfung. Diese Informationen sind aktuell nicht mehr auf der Seite der Charité abrufbar. Eine andere Seite zur Online-Befragung ist allerdings noch vorhanden. (Stand: 16.5.2022)

Ein Sprecher des Krankenhauses teilte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auf Anfrage mit: «Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren.»

So wurde in der ImpfSurv-Umfrage dazu angerufen, einen Fragebogen über an sich selbst beobachtete Impfreaktionen und Nebenwirkungen auszufüllen. Menschen, die sich gegen Sars-CoV-2 haben impfen lassen, seien direkt in Impfzentren und über Mails angefragt worden, ob sie teilnehmen würden, erklärte Harald Matthes der dpa. Auch in Gruppen des Messenger-Dienstes Telegram wurde zur Teilnahme an der Befragung aufgerufen. Eine Datenerhebung in dieser Form führt in der Regel nicht zu repräsentativen Ergebnissen.

Wie die Antworten ausgewertet werden, ist unklar. Trotz mehrfacher schriftlicher Anfragen stellte Matthes die Daten oder die genauen Fragestellungen der dpa nicht zur Verfügung. Seine Begründung: «Die Daten werden erst wissenschaftlich peer review publiziert, bevor diese an die Laienpresse gehen.» Damit ist gemeint: Auf die genauen Werte sollten zuerst Experten und Expertinnen draufschauen.

Die Charité stellt dazu klar: «Professor Matthes hat eine Stiftungsprofessur für Integrative und anthroposophische Medizin an der Charité inne. Zum Themenkomplex Covid-19 und Impfungen ist unsere Expertise in anderen Instituten und Kliniken der Universitätsmedizin verortet.» Und auch Matthes selbst sagt: «Epidemiologische Daten müssen mit entsprechenden Werkzeugen der Epidemiologie beurteilt und bewertet werden.»

Matthes begründet die Hochrechnung seiner Daten in Interviews auch mit ähnlichen Zahlen aus «anderen Registern», die ebenfalls deutlich höher seien als die des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Auf dpa-Anfrage verwies er auf mehrere Studien, etwa die Zulassungsstudien für die Impfstoffe von Moderna und Pfizer/Biontech und eine Auswertungsstudie, die eine Datenbank der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgewertet hat.

Die Autoren der WHO-Auswertung kommen auf die Zahl von 0,6 Prozent Verdachtsfälle schwerer gesundheitlicher Probleme. Sie weisen allerdings darauf hin, dass es aufgrund von «fehlender korrekter Auswertung und technischen Problemen» nicht angemessen sei, «alle festgestellten gesundheitlichen Probleme auf die Impfung zurückzuführen».

In den Zulassungsstudien für die beiden mRNA-Impfstoffe stehen zwar Werte von 0,6 Prozent (Pfizer/Biontech) und 1 Prozent (Moderna) bei den festgestellten nicht-tödlichen schweren gesundheitlichen Problemen. In den jeweiligen Vergleichsgruppen, die nur ein Placebo ohne Wirkstoff bekamen, sind die Zahlen aber ähnlich oder gleich hoch und liegen bei 0,5 Prozent (Pfizer/Biontech) und 1 Prozent (Moderna). Ein Zusammenhang mit der Impfung bleibt damit unklar.

Auch in Österreich gibt es keine Hinweise darauf, dass die Zahl der schweren Impfnebenwirkungen deutlich höher ist als bisher angenommen. Das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) sammelt hierzulande alle Meldungen von vermuteten Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen. Diese werden von Angehörigen der Gesundheitsberufe oder von Patienten und Patientinnen gemeldet. Nach erfolgter Begutachtung werden die Daten an die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) weitergeleitet.

Der Großteil der Meldungen betreffe «zu erwartende Impfreaktionen wie sie in den klinischen Studien der Zulassungsverfahren der Impfstoffe beschrieben wurden», steht etwa im aktuellen Bericht. Die Mehrheit sei in der Intensität mild bis moderat gewesen und binnen weniger Tage verschwunden.

Auch im aktuellen Sicherheitsupdate der EMA zu den fünf in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffen steht, dass der Nutzen der Impfstoffe die Risiken von Nebenwirkungen überwiegen würde.

(Stand: 16.5.2022)

Links

ImpfSurv-Projektbeschreibung (archiviert)

Weitere ImpfSurv-Projektbeschreibung (archiviert)

ImpfSurv-Umfrage (archiviert)

Telegram-Post mit Aufruf zur Studienteilnahme (archiviert)

Interview auf Focus.de (archiviert)

Auswertungsstudie im «Journal of Applied Pharmaceutical Science» (archiviert)

Zulassungsstudie Pfizer/Biontech (archiviert)

Zulassungsstudie Moderna (archiviert)

Aktueller BASG-Bericht (PDF) (archiviert)

EMA-Safety Update (archiviert)

«exxpress»-Artikel (archiviert)

«Wochenblick»-Artikel (archiviert)

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