Politische und wirtschaftliche Lage in Russland weit schwieriger als behauptet

25.03.2022, 16:39 (CET)

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine kursieren zahlreiche Falschinformationen im Internet. Das Land habe keine Schulden oder «inneren Konflikte» und sei «politisch und gesellschaftlich stabil», heißt es zum Beispiel in Facebook-Postings (hier archiviert). Das russische Gas könne Europa zudem nicht ersetzen.

Bewertung

Russland hat Schulden und ist demokratiepolitisch seit Jahren nicht mehr stabil. Der Krieg in der Ukraine und die daraus folgende wirtschaftliche Lage haben die gesellschaftliche Situation im Land verschärft. Experten zufolge kann zumindest ein Teil des russischen Gases mittelfristig ersetzt werden. Es gibt in Europa 29 große Flüssiggas-Terminals.

Fakten

Russland hat tatsächlich weniger Schulden als andere Länder, ist aber keineswegs schuldenfrei. Die russische Staatsverschuldung ist nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) seit einem Höchststand von 1998, als sie 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrug, gesunken. Danach lag sie Ende 2021 bei 17,9 Prozent. Das ist im Vergleich zu anderen Staaten niedrig. Für Österreich wurde sie etwa mit 84,2 Prozent beziffert, für Deutschland mit 72,5 Prozent.

Die russische Nachrichtenagentur TASS gab die öffentliche Verschuldung Russlands für das Jahr 2020 unter Berufung auf den Rechnungshof mit 17,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an. Das entsprach damals umgerechnet 257 Milliarden Dollar.

Russlands Finanzministerium teilte im März mit, das Land werde seine Auslandsschulden zunächst in - mittlerweile stark abgewerteten - Rubeln bezahlen. Dies wurde mit dem Einfrieren von 300 Milliarden US-Dollar russischer Währungsreserven begründet, die westliche Staaten wegen des Angriffs auf die Ukraine beschlossen hatten.

Dass Russland «innere Konflikte» hat und alles andere als «politisch und gesellschaftlich stabil» ist, liegt auf der Hand. Der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder von der deutschen Bundeszentrale für Politische Bildung bezeichnete die Putin-Regierung als «lernendes autoritäres Regime». Bei Wahlen gebe es keine echte Alternative mehr. Die Wahlbeteiligung war zudem zuletzt äußerst gering: Bei den Parlamentswahlen vom September 2021 lag sie laut einem Bericht der Zeitung «The Moscow Times» bei lediglich 51,7 Prozent.

Seit 2012 sei Putin mit «juristischen Schritten und Repressionen vorgegangen (...), um sein Regime abzusichern und vor Störfaktoren zu schützen, die ihm gefährlich erscheinen», schreibt der Politologe. Unter anderem würden die unabhängige Zivilgesellschaft kriminalisiert, oppositionelle Kräfte diffamiert, Massenmedien kontrolliert und soziale Medien instrumentalisiert. Mittlerweile sind einzelne Social Media-Kanäle wie Instagram und Facebook verboten.

Seit dem Angriff auf die Ukraine wurden die Zustände im Land noch schlimmer. Bei Demonstrationen gegen den Krieg wurden schon Tausende Menschen festgenommen (hier, hier). Für die Veröffentlichung von «Falschinformationen» über Auslandsaktionen des russischen Staates drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. In einem weiteren Verfahren wurde der Regimekritiker Alexej Nawalny zuletzt zu neun Jahren Straflager unter besonders harten Haftbedingungen verurteilt. Das Verfahren wird als politische Inszenierung kritisiert.

Verschärft wird die Lage der russischen Bevölkerung durch die aufgrund des Krieges verhängten Sanktionen. Zahlreiche westliche Geschäfte und Konzerne haben Russland verlassen, was zu einem Mangel an vielen Gütern geführt hat. Auch in Supermärkten gibt es Versorgungsprobleme. Viele Russen können im Ausland nicht mehr zahlen und der Rubel ist fast nichts mehr wert, wodurch viele Russen ihre Ersparnisse verloren haben.

Das Zitat des russischen Botschafters in Schweden wurde im Facebook-Posting zudem nicht richtig wiedergegeben. Übersetzt sagte Viktor Tatarinzew in einem am 12. Februar veröffentlichten Interview mit der schwedischen Zeitung «Aftonbladet»: «Entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, aber wir scheißen auf westliche Sanktionen». Das war zudem noch, bevor Russland die Ukraine angriff.

Auch die Behauptung, es gebe nur zwei Terminals in ganz Europa, wo man LNG-Flüssiggas entladen und lagern könne, ist falsch. Nach Angaben der Zeitschrift The National Law Review vom August 2021 gibt es derzeit in Europa 29 große Terminals für den Umschlag von LNG (Flüssiggas). Von diesen befinden sich 21 in den EU-Mitgliedsländern. Derzeit laufen Planungen für 20 große Einfuhr-Terminals. In Österreich gibt es bisher noch kein LNG-Terminal.

Die These «Wir können das russische Gas nicht ersetzen» stimmt ebenfalls nicht. Zu großen Teilen sei ein solcher Ersatz durchaus möglich, sagen Experten. Nach der russischen Invasion hat die Internationale Energie-Agentur (IEA) in Paris einen 10-Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern.

Danach hat die EU 2021 155 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland eingeführt. Das sind 45 Prozent der gesamten EU-Gasimporte. Demnach könnten die Gaseinfuhren aus Russland innerhalb eines Jahres um mehr als 50 Milliarden Kubikmeter verringert werden, also um mehr als ein Drittel. Dieses Ziel könne erreicht werden, indem man unter anderem etwa 30 Milliarden Kubikmeter Gas bei anderen Quellen einkaufe, Wind- und Solarprojekte beschleunige sowie die Produktion von Bioenergie und Atomenergie maximiere. Noch drastischere Verringerungen seien mittelfristig möglich.

Auch die EU-Kommission hat bereits einen Plan mit Maßnahmen vorgelegt, um russische Gasimporte bis Ende des Jahres zu reduzieren. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll beschleunigt, der Energieverbrauch gesenkt, neue Quellen für Gaslieferungen sollen erschlossen werden. Nach Schätzung der Kommission könnte die EU noch deutlich vor 2030 ganz auf russisches Gas verzichten.

Das Ausmaß der angestrebten Gasreduktion um zwei Drittel innerhalb eines Jahres nannte der Vorstandsdirektor der Energieregulierungsbehörde E-Control, Wolfgang Urbantschitsch, im Gespräch mit der APA allerdings «extrem ambitioniert». Auch laut Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) kann die österreichische Abhängigkeit von Russland nicht von heute auf morgen beendet werden. In Österreich kommen sogar 80 Prozent des gebrauchten Erdgases aus Russland.

Veronika Grimm vom Sachverständigenrat Wirtschaft, den sogenannten Wirtschaftsweisen, sagte allerdings jüngst dem deutschen «Handelsblatt», russisches Gas lasse sich ersetzen: «Mit Gasimporten aus anderen Ländern, dem Einsatz von Kohlekraftwerken und einem geringeren Verbrauch ist das (...) machbar. Es wird herausfordernd und teuer, aber nicht kalt.»

(Stand: 25.03.2022)

Links

Internationaler Währungsfonds zu Schulden (archiviert)

TASS-Bericht zu Schulden (archiviert)

dpa-Bericht zu Einfrierung von russischen Währungsreserven   (archiviert)

Artikel Moscow Times (archiviert)

Bericht Bundeszentrale für politische Bildung (archiviert)

APA-Artikel zu Verbot von Sozialen Medien in Russland (archiviert)

APA-Bericht 1 über Festnahmen (archiviert)

APA-Bericht 2 über Festnahmen (archiviert)

APA-Bericht über russisches Mediengesetz (archiviert)

APA-Bericht über Nawalny-Verfahren (archiviert)

Tagesschau-Artikel über Folgen für russische Bevölkerung (archiviert)

Tweet zu Zitat von russischem Botschafter (archiviert)

Spiegel-Artikel zu Zitat von russischem Botschafter (archiviert)

Bericht LNG-Terminalsarchiviert

IEA-Plan, archiviert

Trending Topics-Bericht zur Flüssiggas-Situation in Österreich (archiviert)

APA/dpa-Artikel zu Plänen von EU-Kommission (archiviert)

Veronika Grimm (archiviert)

Interview Handelsblatt (archiviert)

Facebook-Posting (archiviert)

Kontakt zum Faktencheck-Team der dpa: factcheck-oesterreich@dpa.com