Daten belegen nicht, dass Delta weniger gefährlich ist

16.07.2021, 15:15 (CEST)

Die in Großbritannien vorherrschende Corona-Variante Delta war zuletzt häufig Thema von Diskussionen in Sozialen Medien. Teilweise werden in dem Zusammenhang aber auch falsche Informationen verbreitet. In einem Facebook-Posting (hier archiviert) wird etwa behauptet, dass Delta zehnmal weniger gefährlich sei als frühere Varianten. Das lasse sich an der Case Fatality Rate (CFR) erkennen, der sogenannten Fallsterblichkeit. Diese sei niedriger als jene der Alpha- und Beta-Varianten, heißt es in einem Blog-Artikel (hier archiviert), der im Posting verlinkt ist. 

BEWERTUNG

Die Case Fatality Rate (CFR) der Delta-Variante ist in Großbritannien tatsächlich derzeit niedriger als jene von Alpha oder Beta. Nur auf Basis dessen lässt sich aber nicht sagen, dass die Delta-Variante weniger gefährlich sei. In Bezug auf die Daten müssen mehrere Faktoren - wie etwa der Impffortschritt - miteinbezogen werden. Es ist derzeit nicht eindeutig, ob die Variante zu mehr Hospitalisierungen führt oder eine höhere Sterblichkeit hat. Studien zufolge ist sie aber ansteckender.

FAKTEN

Die reinen Zahlen der letzten Berichte von Public Health England (hier, hier, hier) zeigen, dass die Case Fatality Rate (CFR) in Großbritannien mit Blick auf die Delta-Variante niedriger ist als bei der Alpha- und der Beta-Variante. Betrug diese bei Delta im Juni 2021 0,1 Prozent (0,3 Prozent bei einer Nachbeobachtung von 28 Tagen), so lag sie im Fall der Alpha-Variante bei 1,9 Prozent und bei Beta bei 1,4 Prozent. Im aktuellsten Bericht liegt sie bei Delta (Nachbeobachtung von 28 Tagen) bei 0,2 Prozent, in Bezug auf Alpha und Beta blieb sie etwa gleich.

Die Case Fatality Rate (CFR) ist die Fallsterblichkeit. Sie gibt an, wie viele der laborbestätigten Corona-Infizierten sterben. In Bezug auf die Mortalität im Vergleich zu anderen Varianten oder darüber, wie gefährlich die Delta-Variante ist, sagt sie nur bedingt etwas aus.

Im aktuellsten britischen Bericht wird etwa betont, die CFR sei nicht dazu geeignet, verschiedene Corona-Varianten miteinander zu vergleichen: «Die Fallsterblichkeit ist nicht zwischen den Varianten vergleichbar, da diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Pandemie ihren Höhepunkt hatten». Zudem spielten die Krankenhausauslastung, die Verfügbarkeit von Impfungen und deren Raten, Fallprofile, Behandlungsmöglichkeiten sowie Effekte der Meldeverzögerung neben anderen Faktoren eine Rolle. 

In einem Bericht vom Juni heißt es, die Mortalität sei ein verzögerter Indikator. Damit ist gemeint, dass die Anzahl der Fälle, die eine Nachbeobachtungszeit von 28 Tagen abgeschlossen haben, derzeit sehr gering ist. Es sei also zu früh «um eine formale Bewertung der Sterblichkeit von Delta nach Alter geschichtet im Vergleich zu anderen Varianten abzugeben.»

Darauf weist auch Eva Schernhammer, Professorin für Epidemiologie an der Medizinischen Universität Wien, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) hin: «Meiner Meinung nach ist das ein Schlüsselstatement (…) - nämlich, dass man noch zu wenig weiß, was alters-stratifizierte Daten betrifft.»

Von Anfang an habe man gewusst, dass die Fallsterblichkeit (CFR) bei Covid-19 für Ältere ganz anders sei als bei Jüngeren. Weil die Älteren bereits großteils geimpft worden seien, betreffe Delta derzeit vorwiegend Jüngere. Daher muss man laut Schernhammer auch schauen, ob die immer schon eher geringere CFR der Jüngeren nun durch Delta gestiegen ist - im Vergleich zur CFR der Jungen bei der Alpha oder der Beta-Variante. Sie habe den Eindruck, dass das der Fall sei, sagt die Epidemiologin. «Allerdings befinden wir uns dann immer noch in einem sehr niedrigen Bereich, was die Sterblichkeit betrifft.»

Dass es insgesamt über alle Altersgruppen hinweg so wirke, als sei die CFR niedriger, sei «kein Wunder», wenn man das Alter nicht in Betracht ziehe. «Damals (Anm. als Alpha oder Beta dominant waren) haben die noch mehrfach älteren Erkrankten die CFR insgesamt höher erscheinen lassen als derzeit, wo es sich um hauptsächlich Jüngere handelt. Man müsste das aber eben differenzierter - nämlich alters-stratifiziert – anschauen», resümiert Schernhammer.

Auch der deutsche Virologe Christian Drosten sieht den Grund in der niedrigeren CFR «ganz klar» darin, dass inzwischen mehr Leute geimpft sind, sagte er Ende Juni im NDR-Podcast. Man könne aber davon ausgehen, dass die CFR noch steige. Damit spricht er ebenfalls auf die Mortalität als verzögerten Indikator an.

Die jetzige CFR bei Delta schließt also nicht mehr die gesamte Bevölkerung mit ein, sondern hauptsächlich jenen Teil, der noch nicht geimpft wurde. Da es vorrangig um jüngere Menschen handelt, die nicht so gefährdet sind, schwer an Covid-19 zu erkranken, ist die CFR auch niedriger. Der Wert kann also nicht die «Gefährlichkeit» der Variante für die gesamte Gesellschaft abbilden.

Das lässt sich auch durch Zahlen belegen: Nur 13 Prozent der unter 40-Jährigen erhielt laut dem aktuellsten Bericht zum britischen Impffortschritt die zweite Corona-Impfung, aber 93 Prozent der über 80-Jährigen. Gleichzeitig treten rund 90 Prozent aller Delta-Fälle bei den unter 50-Jährigen auf. Im Zeitraum vom 1. Februar bis zum 21. Juni 2021 wurden 123 620 Delta-Fälle bestätigt, davon 111 008 bei unter 50-Jährigen und 12 404 bei über 50-Jährigen. Das würde eine CFR von 0,02 Prozent für die jüngere Altersgruppe und eine von rund 1,9 Prozent für die ältere ergeben.

Zu einem späteren Zeitpunkt – wenn die Datenlage besser ist - könnte man dann die Delta-CFR der Jüngeren mit der CFR der Jüngeren während einer der früheren Varianten vergleichen und so Aussagen zur Sterblichkeit treffen. Ein Vergleich wie er im Blog-Artikel angestellt wurde, ist aber derzeit unzulässig. Zudem ist es unzulässig, die Delta-CFR mit jener der Grippe zu vergleichen.

Die CFR ist ein Wert, der generell mit Vorsicht betrachtet werden muss, wie etwa das Statistik-Portal «Our World in Data» zu Beginn der Pandemie schrieb. Die Rate zeige nicht das Risiko, an Covid-19 zu sterben. Sie sei nicht konstant, sondern müsse Kontext-bezogen gesehen werden: «Sie spiegelt den Schweregrad der Krankheit in einem bestimmten Kontext, zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Population wider.»

Die CFR kann sich über die Zeit verringern oder erhöhen sowie in Bezug auf verschiedene Orte oder Bevölkerungen variieren. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhält man zuverlässige CFRs, die zur Beurteilung der Tödlichkeit eines Krankheitsausbruchs oder der eingeleiteten Gesundheitsmaßnahmen dienen, erst am Ende einer Pandemie, nachdem alle Fälle geklärt sind.

Die «Gefährlichkeit» einer Variante bemisst sich nicht nur an der Sterblichkeit, sondern etwa auch an der Rate der Hospitalisierungen oder der Ansteckungen. In Bezug auf Hospitalisierungen wird häufig auf eine Studie in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift «The Lancet» von Juni 2021 verwiesen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass das Risiko, mit einer Infektion durch die Delta-Variante ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, in Schottland im Vergleich zur Alpha-Variante etwa doppelt so hoch gewesen sei. Insbesondere bei Personen mit mehreren Vorerkrankungen sei das Risiko erhöht gewesen.

Eine ähnliche Quote nannte der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, Ende Juni in einer Pressekonferenz: «Momentan deuten unsere Meldezahlen darauf hin, dass die Hospitalisierungsrate (Anm. bei der Delta-Variante im Vergleich zur Alpha-Variante) doppelt so hoch ist». Er betonte aber auch, dass die Daten noch jung seien und weiter beobachtet werden müssten. Anders sieht das der deutsche Virologe Alexander Kekulé, wie sich in mehreren Medienberichten nachlesen lässt (hier, hier). 

Eindeutiger ist die Studienlage in Bezug auf die Ansteckungswahrscheinlichkeit. Mehrere Studien (hier, hier) deuten darauf hin, dass Delta ansteckender ist als frühere Varianten.

(Stand: 16.7.2021)

Links

Public Health England, Technical Briefing 16 (18.6.2021) (archiviert)

Public Health England, Technical Briefing 17 (25.6.2021)(archiviert)

Public Health England, Technical Briefing 18 (9.7.2021)(archiviert)

Unterschied Fallsterblichkeit und Infektionssterblichkeit (archiviert)

«ndr»-Podcast mit Virologe Christian Drosten (23.6.2021)(archiviert)

Britischer Impffortschritt (8.7.2021) (archiviert)

«Our World In Data» über Case Fatality Rate (CFR) (archiviert)

Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Case Fatality Rate (CFR)(archiviert)

Studie von «The Lancet» über Hospitalisierungsrate bei Delta-Variante (Juni 2021) (archiviert)

Pressekonferenz mit u.a. RKI-Chef Lothar Wieler

«Tagesschau»-Artikel über Pressekonferenz mit u.a. RKI-Chef Lothar Wieler (25.6.2021) (archiviert)

Interview mit Virologe Alexander Kekulé (5.7.2021) (archiviert)

Gastbeitrag von Virologe Alexander Kekulé (24.6.2021) (archiviert)

Wissenschaftlicher Artikel in «Eurosurveillance» über Übertragbarkeit von Corona-Varianten (Juni 2021) (archiviert)

Britische Studie über Ansteckungsrate von Delta-Variante in Haushalten (Juni 2021) (archiviert)

Faktencheck von «Health Feedback» zu dem Thema (archiviert)

Facebook-Posting (archiviert)

Blog-Artikel von «tkp» (archiviert)

Kontakt zum Faktencheck-Team der dpa: factcheck-oesterreich@dpa.com