Keine Belege für angebliche Aussage von Bundeskanzler Kurz

25.05.2021, 16:19 (CEST)

Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ein Ermittlungsverfahren gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) eröffnet hat. Als Rücktrittsgrund sah Kurz das nicht, was zahlreiche Kritiker auf den Plan rief. Einige verbreiteten in dem Zusammenhang auch ein angebliches Zitat von Kurz in den sozialen Medien (hier archiviert), wonach er nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos über die FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Herbert Kickl gesagt haben soll: «Man kann nicht Vizekanzler und Innenminister einer Republik sein, wenn gegen diese Personen ein Ermittlungsverfahren geführt wird.» Damit wird suggeriert, dass Kurz mit zweierlei Maß misst.

Bewertung

Für dieses Zitat gibt es keine Belege. Laut einem Pressesprecher von Bundeskanzler Kurz wurde diese Aussage nie getätigt.

Fakten

Am Abend des 17. Mai 2019 veröffentlichten die «Süddeutsche Zeitung» (Paywall) und der «Spiegel» Ausschnitte aus dem Ibiza-Video. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) äußerte sich am selben Abend noch nicht dazu, sondern gab erst am 18. Mai ein Statement. In diesem fiel der angebliche Satz nicht, wie sich hier nachlesen lässt.

Am 19. Mai war Kurz bei einem Gespräch bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Auch beim Statement im Anschluss sagte er den Satz nicht. Das gesamte Video ist auf YouTube. Kurz spricht davon, dass es jetzt volle Aufklärung brauche und alle Verdachtsmomente, bis hin zu Fragen von möglicher strafrechtlicher Relevanz, geprüft werden müssten.  

Zu dem Zeitpunkt war noch gar nicht klar, ob es Ermittlungen geben würde. Gegenüber der «Bild» (Paywall) schloss Kurz am 20. Mai 2019 nicht aus, dass sich der bisherige Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) durch dessen Äußerungen in dem Ibiza-Video strafbar gemacht haben könnte. «Die Ermittlungen werden zeigen, was jetzt passiert», so Kurz damals.

Am selben Tag gab er nach der Sitzung des ÖVP-Bundesparteivorstandes ein kurzes Statement und hielt eine Pressekonferenz ab, in der er ankündigte, Bundespräsident Van der Bellen die Entlassung von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) vorzuschlagen. Auch bei diesen Medienauftritten fällt der in den Postings genannte Satz nicht.

Als einen Grund für Kickls Entlassung nannte Kurz, dass er zum Entstehungszeitpunkts des Ibiza-Videos Generalsekretär seiner Partei war und somit für die «finanzielle Gebarung» hauptverantwortlich. Das ist relevant, weil Strache im Ibiza-Video von illegalen Parteispenden spricht.

Darüber hinaus habe Kurz bei Kickl «ein Bewusstsein für die Dimension der ganzen Sache» und die «notwendige Sensibilität im Umgang mit diesen Vorwürfen» gefehlt: «All das führt meiner Meinung nach zu einer Gemengelage wo es eigentlich schlüssig gewesen wäre, wenn (...) der Innenminister durch einen Rückzug aus seiner Funktion sichergestellt hätte, dass hier eine lückenlose Aufklärung möglich ist. Und, dass es auch nicht irgendwie den Anschein einer Einflussnahme auf diese Aufklärung geben könnte.»

Der Bundeskanzler konkretisierte gegenüber dem «Kurier»: «Klar ist, dass Herbert Kickl nicht gegen sich selbst ermitteln kann.» Darüber berichtete auch der «Standard»: Kickl sei laut Kurz als Innenminister untragbar – schließlich könne er nicht gegen sich selbst ermitteln. Kurz sagte aber nicht - wie behauptet - dass man per se nicht Vizekanzler oder Innenminister sein könne, wenn gegen einen selbst ein Ermittlungsverfahren geführt werde.

Ein Sprecher des Bundeskanzlers teilte der der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auf Anfrage mit, dass die Aussage nicht getätigt worden sei. Auch eine Suche in der APA-Datenbank sowie eine Google-Suche nach dem angeblichen Zitat sowie nach entsprechenden Stichworten führen zu keinen Treffern.

Bereits nach der Hausdurchsuchung beim jetzigen Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) im Februar 2021 verbreitete sich in den sozialen Medien ein ähnliches Zitat (hier und hier) Damals twitterte Gerald Krieghofer, der falsche Zitate sammelt, keine Quelle dafür gefunden zu haben.

Es gibt also keinerlei Hinweise, dass Kurz den derzeit kursierenden Satz in dieser Form sagte. Ob der damalige Vorwurf der Befangenheit Kickls bei Ermittlungen gegen sich selbst aber moralisch vergleichbar damit ist, dass dasselbe jetzt für Kurz oder Blümel gelten müsste, gegen die Ermittlungsverfahren laufen - das bleibt Gegenstand von Diskussionen.

Zu den unbelegten Zitaten gibt es auch bereits einen Faktencheck von AFP.

Links

«Die Presse» über Ermittlungsverfahren gegen Kanzler Kurz (archiviert: https://archive.is/7rRgp)

«Süddeutsche Zeitung» über Ibiza-Video (mit Paywall)

«Spiegel» über Ibiza-Video (archiviert: https://archive.is/KDLsN)

Statement von Kanzler Kurz am 18. Mai 2019 im Wortlaut (archiviert: https://perma.cc/8MR8-NNV4)

Statement von Kanzler Kurz am 19. Mai 2019 auf YouTube (archiviert: https://perma.cc/N9JY-STFS)

«Bild»-Interview mit Kanzler Kurz am 20. Mai (mit Paywall)

Statement von Kanzler Kurz nach Sitzung des ÖVP-Bundesparteivorstandes am 20. Mai 2019 (archiviert: https://perma.cc/99DS-56GU)

Pressekonferenz von Kanzler Kurz am 20. Mai 2019 auf YouTube(archiviert: https://perma.cc/S84M-CVBK)

Transkript (archiviert: http://dpaq.de/vsVMT)

ZIB2-Interview mit damaligem Kanzleramtsminister Gernot Blümel (ÖVP) am 19. Mai 2019 auf YouTube (archiviert: https://perma.cc/WLD8-PFVB)

«Kurier»-Artikel zu Kurz-Aussage (archiviert: http://dpaq.de/KDSTr)

«Standard»-Artikel zu Kurz-Aussage (archiviert: https://archive.is/BSE4y)

APA-Artikel über Anzeige gegen Kickl (archiviert: https://archive.is/WLBhS)

ORF-Artikel über Kickl (archiviert: https://archive.is/2hDpH)

Ermittlungsverfahren gegen Kurz wegen Falschaussage (archiviert: https://archive.is/10FOr)

Blümel in Causa Casinos (archiviert: https://archive.is/7wHWg)

ORF-Artikel über Ermittlungsstand 20. Mai 2019 (archiviert: https://perma.cc/HG33-Z4U7)

ORF-Artikel über Hausdurchsuchung bei Blümel (11.2.2021) (archiviert: https://archive.is/70IUU)

Tweet von Sammler falscher Zitate (archiviert: https://archive.is/dIf7N)

AFP-Faktencheck (archiviert: https://archive.is/cZc7T)

Aktuelles Facebook-Posting (archiviert: https://perma.cc/2HQQ-NKQS)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: factcheck-oesterreich@dpa.com