WHO stuft Covid-19 nicht weniger gefährlich als Grippe ein - Rechnungen irreführend
24.10.2020, 12:04 (CEST)
Gegner der Corona-Maßnahmen argumentieren seit langer Zeit, dass Covid-19 angeblich nur so gefährlich wie eine gewöhnliche Grippe sei. Das soll nun sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigt haben. Die Sterblichkeitsrate liege angeblich weit unter den im Frühjahr von der WHO kommunizierten Zahlen, so Postings auf Facebook (hier archiviert).
BEWERTUNG: Die WHO hat nicht behauptet, dass das Coronavirus höchstens so gefährlich wie die Grippe sei. Die von ihr erwähnten Zahlen lassen derartige Rückschlüsse nicht zu. Zudem sind die Ergebnisse der damit angestellten Rechnungen nicht mit Werten der WHO aus dem Frühjahr vergleichbar. Studien weisen auf eine deutlich höhere Sterblichkeit bei Covid-19 als bei der Grippe hin.
FAKTEN: Die kursierenden Behauptungen beziehen sich auf eine Aussage des Geschäftsführers des «Health Emergencies Programme» der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Michael Ryan. Dieser sagte in einer Sondersitzung Anfang Oktober, dass nach den «besten Schätzungen» der WHO bereits zehn Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde mit Sars-CoV-2 infiziert (gewesen) sein könnten. Diese Aussage findet man im Webcast der WHO (erste Session, ab etwa 1:01:20). Die Aussagen lassen sich auch in Medienberichten finden.
Um Rechnungen anzustellen, muss zunächst erklärt werden, dass es für die Berechnung der Todesrate von Krankheiten laut WHO zwei verschiedene Ansätze gibt: Zum einen kann berechnet werden, wie viele Todesfälle es unter allen positiv Getesteten gab. Dies nennt sich Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR - Case Fatality Rate). Zum anderen kann man die Zahl der Todesfälle der geschätzten Zahl an Gesamtinfizierten gegenüberstellen. Hier spricht man vom Infizierten-Verstorbenen-Anteil (IFR - Infection Fatality Rate) oder auch von Sterblichkeit. Damit sollen auch Infizierte erfasst werden, die keine oder kaum Symptome aufzeigen und nicht getestet wurden.
Der IFR-Wert ist immer geringer als der CFR-Wert. Denn die Grundgesamtheit - die angenommene Zahl aller Infizierten - ist größer, während die Zahl der gegengerechneten Todesfälle in beiden Rechnungen gleich ist.
Die WHO schätzte in einem Bericht vom 6. März 2020 für Covid-19 einen Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) von drei bis vier Prozent. Der wahre müsse aber erst berechnet werden und könne nur aufgrund der vorhandenen Daten geschätzt werden, heißt es im Dokument. Die Sterblickheit (IFR) werde niedriger sein, so die WHO. Für die saisonale Influenza führt sie eine Sterblichkeit von «normalerweise deutlich unter 0,1 Prozent» an.
Influenza-Tote können allerdings nicht zuverlässig dokumentiert werden, da es keine Meldepflicht gibt und die Todesursache oft nicht erkannt wird. Die Anzahl der Toten wird daher durch Modellberechnungen geschätzt und kann stark schwanken. Der Empidemiologe Christophe Fraser von der Universität Oxford schrieb etwa auf Twitter, dass die Sterblichkeit durch die saisonale Grippe teilweise sogar nur 0,04 Prozent betragen könne. In absoluten Zahlen: Von hochgerechnet 100 000 Infizierten sterben 40.
Corona-Kritiker führen nun aufgrund der von der WHO genannten Schätzung von zehn Prozent Infizierten eine Rechnung durch, mit der sie einen aussagekräftigen Sterblichkeits-Wert für Covid-19 bekommen wollen. Laut Worldometers und «Tagesschau» gab es bis zum 21. Oktober 2020 insgesamt etwa 1 130 000 bestätigte Corona-Todesfälle auf der ganzen Welt. Bei der derzeitigen Weltbevölkerung von etwa 7,8 Milliarden Menschen ergäbe eine solche Rechnung eine Sterblichkeit von 0,14 - worauf auch in den Facebook-Beiträgen hingewiesen wird.
Dieser vermeintliche Sterblichkeits-Wert (IFR) ist keinesfalls vergleichbar mit dem Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR), den die WHO im Frühjahr schätzte. Die WHO hat somit keine Korrektur vorgenommen. Im Gegenteil: Nähme man die Werte obenstehender Quellen, um einen aktuellen CFR-Wert zu errechnen (Division der bestätigten Todesfälle durch die bestätigten Infizierungen), erhielte man einen Fall-Verstorbenen-Anteil (CFR) von 2,7 Prozent. Dieser läge also weiterhin sehr nahe an dem von der WHO vor mehr als sieben Monaten geschätzten CFR-Wert von drei bis vier Prozent.
Allerdings sind solche Rechnungen während einer laufenden Pandemie mit großer Vorsicht zu genießen. Beim Berechnen des CFR-Wertes wird etwa häufig kritisiert, dass sich die Zahlen der Verstorbenen nicht mit den tagesaktuellen Zahlen der Infizierten vergleichen ließen. Ein Vergleich der Todesfälle mit den Infizierten am selben Tag sei «unzureichend», schreiben etwa deutsche Wissenschaftler in einer Arbeit über den Umgang mit Messzahlen in der Corona-Pandemie. Menschen sterben erst mehrere Tage oder Wochen nach der Infektion, weshalb eine Verzögerung eintritt. Science Media Center sammelte etwa kritische Stimmen von Experten zu einem von der WHO kommunizierten CFR-Wert.
Und: Selbst der anhand der geschätzten zehn Prozent Infizierten weltweit berechnete IFR-Wert wäre höher als die Sterblichkeit der saisonalen Influenza. Allerdings muss auch diese Berechnung grundsätzlich stark hinterfragt werden. Denn die beiden grundlegenden Variablen der Rechnung beziehen sich nicht auf aussagekräftige Zahlen: Der Wert der WHO - zehn Prozent der Menschen weltweit infiziert - bezieht sich laut deren Aussage auf Schätzungen. Hierfür wurden internationale Studien ausgewertet und daraus abgeleitet, wie sehr sich der Virus bereits ausgebreitet haben könnte. Dass es dabei starke Unterschiede gibt, etwa je nach Ort und Bevölkerungsgruppe, erwähnte Ryan selbst in der Sitzung.
Das «Journal of Health Monitoring» des Robert Koch-Instituts (RKI) schreibt, dass Kenntnisse über die Stichproben und deren Repräsentativität für die Bevölkerungsgruppe relevant für eine Einschätzung der Studienergebnisse seien: «Die Validität der Ergebnisse ist weiterhin von den verwendeten Antikörpertests, laboranalytischen Verfahren, Grenzwerten für einen positiven Befund sowie von Zeitpunkt und Art der Blutprobenentnahme abhängig.»
Zum anderen weiß man nicht, wie viele Tote es tatsächlich weltweit durch Covid-19 gegeben hat. Die Zahl könnte aus verschiedenen Gründen wie fehlenden Testungen oder unerkannten Todesursachen deutlich höher sein. Die offiziellen Zahlen einzelner Länder müssen zudem nicht der Wahrheit entsprechen - einige Länder wie etwa Nordkorea haben bisher sogar keine Covid-Toten gemeldet (Stand: 10.10.2020).
Für die gesamte Weltbevölkerung sind belastbare Zahlen daher nur äußerst schwierig zu bekommen. Ein auf der Basis von Studien geschätzter Durchseuchungsgrad lässt sich also nicht mit offiziell gemeldeten Todesfällen in Bezug setzen. Allerdings kann die Sterblichkeit (IFR) von Covid-19 durchaus geschätzt werden, wenn man sich entsprechende Studien für bestimmte Regionen ansieht. Da diese in abgegrenzten Gebieten durchgeführt wurden, können sich dabei Hinweise auf die Sterblichkeit der Krankheit finden lassen.
Bei diesen Studien können sich mithilfe von Antikörpertests in Bevölkerungsgruppen IFR-Werte berechnen lassen: Eine überschaubare Anzahl von Personen wird in einem abgegrenzten Gebiet zu einem großen Teil getestet, und ein Überblick über die Todesfälle ist garantiert.
Dies geschah etwa in einer deutschen Studie mit fast 1 000 Teilnehmern aus dem Landkreis Heinsberg. Hier ermittelten die Wissenschaftler laut Universität Bonn eine Sterblichkeit/IFR von 0,37 Prozent. In Ischgl wurde ein IFR von 0,25 festgestellt.
In Brasilien ergab eine Studie unter 25 000 Teilnehmern im Mai eine Sterblichkeit von 1 Prozent. Eine andere Untersuchung kam im März in China zu einem IFR von 0,66 Prozent. Das Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford sieht diesen zwischen 0,1 und 0,35 Prozent.
Bei einer Studie in Schweden wurde eine Sterblichkeit von 0,6 Prozent ermittelt. Eine weitere Studie unter 100 000 Erwachsenen in England ergab im Juli einen IFR von 0,9 Prozent. In Spanien kamen Forscher zu einem IFR von 1,1 bis 1,4 Prozent bei Männern und 0,58 bis 0,77 Prozent bei Frauen.
Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC ermittelte laut «Reason» im Mai für die USA einen IFR-Wert von 0,3. Im Juli kam sie für fünf verschiedene Szenarien auf Werte zwischen 0,5 und 0,8 Prozent. Die WHO selbst verwies erst im Oktober 2020 auf eine Studie des Wissenschaftlers John P. A. Ioannidis, der auf einen IFR-Wert von 0,27 Prozent kam. Ioannidis begutachtete dafür rund 80 Seroprävalenz-Studien, deren IFR-Werte zwischen 0,0 Prozent und 1,63 Prozent schwankten.
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Links:
Webcast WHO: https://www.who.int/news-room/events/detail/2020/10/05/default-calendar/executive-board-special-session-on-the-covid19-response (archiviert: https://archive.is/2igIF)
«CNBC» zu geschätzten Infizierten: https://www.cnbc.com/2020/10/05/who-10percent-of-worlds-people-may-have-been-infected-with-virus-.html (archiviert: https://archive.is/o2Vg7)
WHO «Estimating mortality from Covid-19»: https://www.who.int/news-room/commentaries/detail/estimating-mortality-from-covid-19 (archiviert: https://archive.is/DXtXC)
Bericht WHO vom 6. März 2020:
https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200306-sitrep-46-covid-19.pdf#page=2 (archiviert: https://archive.is/D6Od3)
Christophe Fraser auf Twitter: https://twitter.com/ChristoPhraser/status/1233740643249336320 (archiviert: https://archive.is/Q4a8W)
Todesfälle laut «Worldometers» (21.10.2020): https://www.worldometers.info/coronavirus/ (archiviert: https://archive.is/IlYmW)
Todesfälle laut «Tagesschau» (21.10.2020): https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-karte-101.html (archiviert: https://archive.is/jNvcH)
«Science Media Center»: https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-who-director-generals-comments-that-3-4-of-reported-covid-19-cases-have-died-globally/?cli_action=1603371731.079 (archiviert: https://archive.is/Dxls1)
«CNN» zu Covid-Toten in Nordkorea:
https://edition.cnn.com/world/live-news/coronavirus-pandemic-10-10-20-intl/h_7b0a8faa97bf45ab0fecb18d0ea472a9 (archiviert: https://archive.vn/icMGe)
«Journal of Health Monitoring» (RKI): https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JoHM_S4_2020_Studien_Seropraevalenz_SARS_CoV_2.pdf?__blob=publicationFile (archiviert: https://archive.is/JImFK)
Universität Bonn zu Heinsberg-Studie: https://www.uni-bonn.de/news/111-2020 (archiviert: https://archive.is/MFbqO)
Studie Ischgl: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.08.20.20178533v1.full.pdf (archiviert: https://archive.is/d6KC1)
Studie Brasilien: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.05.30.20117531v1.full.pdf#page=9 (archiviert: https://archive.is/vOVrq)
Studie China: https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30243-7/fulltext (archiviert: https://archive.is/PtfnS)
Studie England: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.08.12.20173690v1.full.pdf (archiviert: https://archive.is/JzbMp)
Studie Spanien: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.08.06.20169722v1.full.pdf (archiviert: https://archive.is/cUbTs)
Studie Schweden: https://www.folkhalsomyndigheten.se/contentassets/53c0dc391be54f5d959ead9131edb771/infection-fatality-rate-covid-19-stockholm-technical-report.pdf#page=7 (archiviert: https://archive.is/VRlHO)
«Reason»: https://reason.com/2020/05/24/the-cdcs-new-best-estimate-implies-a-covid-19-infection-fatality-rate-below-0-3/ (archiviert: https://archive.is/PJDwH)
US-Gesundheitesbehörde CDC - fünf Szenarien: https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/hcp/planning-scenarios-archive/planning-scenarios-2020-09-10.pdf (archiviert: https://archive.is/MsO88)
WHO-Veröffentlichung von Ioannidis-Studie: https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf (archiviert: https://archive.is/mqPgd)
«Epidemiologische Maßzahlen im Rahmen der Covid-19-Pandemie»: https://www.aerzteblatt.de/archiv/213644/Epidemiologische-Masszahlen-im-Rahmen-der-COVID-19-Pandemie (archiviert: https://www.aerzteblatt.de/archiv/213644/Epidemiologische-Masszahlen-im-Rahmen-der-COVID-19-Pandemie)
Beitrag auf Facebook: https://www.facebook.com/roman.braun/posts/10159624110983357 (archiviert: https://archive.is/crlbE)
Beitrag 2 auf Facebook: https://www.facebook.com/gernot.strommaschine/posts/3373381726080686 (archiviert: https://web.archive.org/web/20201014130244/https://www.facebook.com/gernot.strommaschine/posts/3373381726080686)
off-guardian.com: https://off-guardian.org/2020/10/08/who-accidentally-confirms-covid-is-no-more-dangerous-than-flu/ (archiviert: https://archive.is/QzzV9)
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